Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Mein Jahresrückblick

Mein Jahresrückblick

Ich spüre sie noch, die Haptik der Zuckerdose, die ich täglich zum Tee auf das Tablett für meinen Vater stellte, obwohl ihm auch immer mehr Pflege durch die Dienste und meine Geschwister zugutekam. Ich höre noch das Geläute der Hausklingel, wenn er es wieder mal nicht aufs WC geschafft hatte. Mit jedem Sturz ein Stück weiter weg vom Leben, jedesmal ein Bruch, erst ins Pflegebett, als der Sessel noch sein bevorzugter Aufenthaltsort war, dann daraus nicht mehr erhoben, dann ein bisschen verrückt, dass ich gewahrte, dies sei mein Erbteil von ihm, dann sehr friedlich eingeschlafen. Nicht lange zurück hatten wir beide noch herzhafte Streitszenen, zum Beispiel um die Dotationen für mich, zu denen er sich am 11. Januar hatte bewegen lassen, wo er noch zu Kopf der reichen Kinderschar saß, die seit fast 15 Jahren schon ihre Mutter verloren hatte.
Nicht jeder Wunsch wurde ihm erfüllt. Das Rezept für einen zweiten Rollator lagerte ich ab, bis es sich damit erledigt hatte. Immer, als es auf das dennoch unerwartete Ende zuging, mehrten sich auch die Vorschläge meiner Geschwister, die sich dann im Nachgang als rechte Politiker entpuppten, wegen einer der Stürze sollte er gleich ins Krankenhaus, Pflegestufen waren zu erhöhen, eine permanente Kraft sollte her, nach dem Motto 24/7, was Insider sofort verstehen. Und schließlich wurde sie in Irina gefunden, die sich anschickte ein Wunder zu tun und unserem Vater die Lebenskraft zurückzuzaubern. Doch das Verfahren, sie zu uns zu holen, zog sich hin und beschäftigte mich so viele Wochen, dass im kleinen Bundestag schon wieder viele Eilanträge eingebracht waren. Dabei handelte es sich wohl um einen natürlichen Vorgang, dem man vielleicht mit Irinas Wundermitteln hätte beikommen können, jedoch nicht mit einer Betriebsamkeit, die der Würde des unvermeidlichen Vorgangs ein bisschen im Wege zu stehen drohte.
Am Vortage, als die von uns beiden befürwortete Aktion nun endlich steigen sollte und unter erheblichen Aufwendungen meinerseits, hatte unser Vater dann doch die Augen für immer geschlossen, woraufhin ein vernünftig und bündig denkender kleiner Bundestag jetzt alles weitere abzublasen für richtig hielt. Da ging ich meine eigenen Wege und hätte es für vertretbar gehalten, dass man durchaus ein paar Wochen ins Land gehen lässt, vielleicht eben auch mal die reifen Kirschen in Vaters Garten erntet und seiner gedenkt. Ich für meinen Teil hatte eine beträchtliche Summe gegen ein einzigartiges Erlebnis getauscht, das mir ebenso rasch zuteilwurde, und im Übrigen hat wohl jeder der Abgeordneten darauf seine eigene Sicht, der ich nicht vorgreifen möchte, nur dass mir faktisch das Leben zu einer Vorhölle gemacht werden sollte, dessen Ursache ein Mediziner daran festmachte, dass ich selbst zur Ursache eines, wenn auch gar nicht gerechtfertigten schlechten kollektiven Gewissens geworden war. Ich war auch ein bisschen von meiner Krankheit betroffen, die mich emotionale Erschütterungen nur bedingt meistern lässt und ich habe viel geschrieben, für eine anonyme Leserschaft, zu der erstmalig dann auch meine Geschwister gehört hatten, denn das waren nun keine Festgedichte geradezu. Klarstellen muss ich da nur, dass ich meine Initiale nicht in Ulis Vornamen geschummelt hatte, was sie bass unterstellte und alles, was ich dann mal ans Amtsgericht geschrieben hatte, wohlüberlegt und die reinste Wahrheit ist. Das Mittel der Erfindung weiß ich schon anzuwenden, wenn es einer zu erwartenden Einsicht dienen könnte, aber vor Gericht gilt nur die reinste, unerfundene Wahrheit.
An den dann folgenden Regelungen, die in Debatten erarbeitet werden sollten und dann in Schriftstücke, die sich Protokolle nennen, gekleidet wurden, habe ich mich nicht mehr beteiligt, denn ich war erst mal der Meinung, ich hätte genug getan und so sensationell sind sie ja dann auch nicht ausgefallen, außer vielleicht der kriminalistischen Jagd auf ein paar Habseligkeiten, wie das Hörgerät oder einen zweiten Autoschlüssel, bezüglich dessen ich mich schon am 14. September gegenüber meiner antwortkargen Schwester erklärt hatte. Fakt ist auch, dass alle die Erbschaft angenommen haben, wobei nach dem Mentalen nicht gefragt wurde.
Als ich nun der verhinderten Wundertäterin von der letzten Aktion des kleinen Bundestags berichtete, bei der es geboten schien, sie nun erst recht ins Gewand der Metapher zu kleiden, antwortete sie: Nje derschitje sla na swoich bliskich, was ich mir natürlich sofort zu Herzen genommen habe und mich zu dieser Geschichte, die Kunst sein könnte und ich Horst zu verdanken habe, trug.
Natürlich hätte ich noch ein paar Frischverlobtgeschichten, oder noch schlimmer, OBus oder Magic Ball Geschichten zu bieten, aber das ist wohl eher der normale Lauf der Welt, wie die Erbengeschichte im kleinen Bundestag sicher auch, aber wem liegt das schon am Herzen. Drum zitiere ich zu guter Letzt noch F. Wittkamp, der es kürzer weiß:

Das Alte Jahr ist schon sehr alt
Das Alte Jahr nimmt seinen Hut
Das Alte Jahr verschwindet halt
Im neuen Jahr wird alles gut
frei nach FW

C. R. Silvestertag 2020