Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Seelenwege

Seelenwege

Es war einmal ein armer, alter König, dessen Reich sich gerade mal auf 452 Quadratwerst bemaß und der nicht viel Glück bei den Frauen gehabt hatte. Die erste Königin hatte ihm drei Töchter, die zweite eine weitere Tochter und die dritte einen Sohn und einen weiteren Jungen an Sohnes statt geschenkt. Fast allen von Ihnen hatte er ewige Liebe geschworen, aber die Zeitläufte waren immer dagegen gewesen. Als ihn die dritte verlassen hatte, hatte sich der arme König seines einzigen Schatzes erinnert, der ihm von seiner Mutter geworden war, und das war die Tatkraft. Er konnte ja fast alle Arbeiten wie die einfachsten und begabtesten seiner Untertanen ebenfalls verrichten und so begab er sich unter seine Leute, ohne sich zu erkennen zu geben, und half mal hier mal da. Er hatte sogar manche Idee, wie man einiges noch schneller und schöner verrichten kann, bemerkte, wie dies das Leben bereicherte und befahl hinfort, dass statt schnöder Waren, langweiliger Formulare und herzlosen Sensationsnachrichten, seine Untertanen nur noch in kleinen und großen Kunstwerken, wie es gerade angemessen war, untereinander verkehren sollten. So kam es, dass ein einfaches Stück Butter jetzt keinem anderen mehr glich, sondern eins war wie eine Rose, ein anderes wie ein Vogel geformt. Nicht selten war es sogar mit Schokolade überzogen. Die Formulare wurden zu handgefertigten Schreiben, in denen die Beamten zu erkennen gaben, dass sie wohl um die Situation des Adressaten Bescheid wussten, fragten keinen mehr nach Namen und Geburtsdatum, weil das allen wohl bekannt war und lösten aus, dass die Antwort wieder so ein kleines Kunstwerk sein konnte. Das ergab eine solche Übung in schriftlichen Dingen, dass auch Nachrichten überwiegend von den Betroffenen selbst verfasst werden konnten, und die freudigen Ereignisse wurden so oft zu Märchen und ein Unglück oft mit Schweigen bedacht, wie es sich gehört.

Das war nicht von einem Tag auf den anderen gegangen, und die Unbeholfenen mussten oft jahrelang lernen und studieren, bis sie den weisen Gedanken des immer älter werdenden Königs verstanden hatten. Er verbrachte jetzt wieder Stunden auf seinem Thron, und da man sich ihm nur mit Kunstwerken nahte, hatte er selbst auch nur solche zu verfertigen, und selbst die Todesurteile, die er zu fällen hatte, brachten den Delinquenten noch den gebührenden Trost und ließen sie gelassen aus ihrem sündigen Leben gehen. Das hätte nun bis zum Ende seiner Tage so weiter gehen können. Sicher hätte er sogar noch länger gelebt, weil die Sänger sein Loblied bis in die fernsten und reichsten Länder trugen und so manches schöne Bildnis ihn unsterblich gemacht hatten, aber da nicht das Gegenwärtige, sondern nur das Ausgedachte von Dauer sein kann, lag bald ein Zug von Gram auf seinem Antlitz, auch, da er wohl vergessen hatte, sich in all dem Tun ein kleines Fetzchen Glück für sich selbst zu reservieren. Zudem war ein unerklärliches Sterben, über das normale Maß hinaus, seit zwei Jahren über sein kleines 452 Quadratwerst Reich gekommen.

Da ging der arme König mal wieder in den Garten. Er hatte lange der vielfältigen Blumen und Gewächse nicht mehr geachtet und erging sich darin, ohne dass das seinen Gram allerdings gelindert hätte. Da setzte er sich am Teich nieder und wollte seine Fische füttern, doch der Teich war gähnend leer. Da schlug er die Augen nieder und meinte wohl, das gehöre zu den sich mehrenden Missgeschicken. Als er seine Augen wieder aufschlug, gewahrte er dann doch noch einen einzelnen Fisch, der gerade hinter einer Wasserpflanze hervorkam, sich nichts aus seiner Einsamkeit zu machen schien und den er noch nie gesehen hatte. Er rief seinen Hofnarren und fragte: „was ist das für ein Fisch?“ Der Hofnarr sagte darauf: „Den wahren Namen werdet ihr nicht wissen wollen, aber es ist wohl so, dass er alle eure Stichlinge gefressen hat. Seht ihn nur an, und dann wird euch schon ein passender Name einfallen.“ „Er ist sehr schön“, sagte der alte König, „ich werde ihn erst beobachten müssen, bevor ich ihm einen passenden Namen geben kann.“ „Ihr solltet nicht zu lange damit warten, Herr König, denn es ist ein tropischer Fisch und wird in unserem Teich nicht lange überleben. Außerdem ist er Gesellschaft gewohnt und könnte vorher noch an Einsamkeit sterben“, meinte der Hofnarr, der wohl gar nicht so närrisch war, wie man denken könnte, und eigentlich sogar gebildet. „Gut“, sagte der König, „dann will ich ihn Christoph nennen. Male mal ein Bild von ihm … aber nein, das kannst Du ja doch nicht, lass es den Hofmaler machen.“ „Zu Diensten, Herr König“, sagte der Hofnarr, „aber der Maler ist beschäftigt, er bemalt gerade Steine.“ „Pack dich“, sagte da der grummelige König, „ich kläre das selbst.“ Er blieb noch eine Weile sitzen und beobachtete den Fisch weiter, der etwas zu suchen schien. Da sah er einige der bemalten Steine am Ufer liegen, in einer Reihe, deren erster wie ein Schlangenkopf aussah. Wütend eilte er zum Hofmaler und fuhr ihn an: „Bezahle ich dich etwa fürs Steineanmalen? Wie kannst Du sie neben den Teich drapieren, in dem der schönste Fisch schwimmt, den je ein menschliches Auge gesehen hat. Ich habe ihm einen Namen gegeben und möchte ihn zu meinem Wappen machen.“ „Am Teich?“, sagte der Maler, „dort war ich schon lange nicht mehr. Ich habe die Steine da nicht hingelegt. Meine behalte ich alle hier in meinem Atelier.“ „Papperlapapp“, grummelte der alte König, „nun male er endlich das Bild, dass ich es zu meinem Wappen machen kann.“ „Gefällt Ihnen denn das alte Wappen nicht mehr? Das Schwert, gekreuzt mit dem Pinsel und dahinter die Lyra?“, warf der Maler noch kurz ein. „Die Schönheit dieses Fisches ist unübertroffen, und schließlich sind wir doch alle Christenmenschen, was ich wenigstens hoffen möchte. Die Christen haben es doch mit den Fischen, irgendwie“, sagte da der alte König schon etwas versöhnlicher.

Flink hatte der Maler das Bildnis fertig, das zum neuen Wappen des Königreichs sogleich erhoben wurde. Alsbald war das Wappentier dann auch wirklich verschwunden, wie der Narr vorhergesagt hatte. Das Rätsel um die Schlange aus bemalten Steinen blieb aber ungelöst, und der arme, alte König stieß er zu seinem Unmut in seinem Reich immer öfter auf solche versteinerten Schlangen, die wohl aus irgendwelchen Gründen in Mode gekommen waren, ohne dass jemand wusste, welche Industrie wohl dahinter stand bei den Tausenden von Steinen, jeder ganz anders aussehend. Aber bevor wir in unserer Geschichte fortfahren, wollen wir sehen, was der Maler inzwischen zustande gebracht hatte.

ein Fisch

Der Fisch war zwar verschwunden, aber er lebte ja weiter, weil das Bildnis ihn getreu wiedergab. Ob er gestorben war, wusste keiner zu sagen, selbst die weisesten Ratgeber des alten, armen Königs nicht. Genauso wenig wussten sie den Ursprung der steinernen Schlangen zu klären und wieder streifte der arme, alte König durch sein ganzes Land, von einer Grenze an die andere. Sein Reich hatte allerdings nur eine Nordgrenze, an der das Meer lag, eine Westgrenze und eine Ostgrenze, also drei. Nach Süden hin ging es in ein Bergland über, das karg und steinig war und für das sich keiner interessierte. Manche sagten zwar, das sei auch ein Königreich, aber wovon hätte ein König dort leben wollen und noch dazu eine Zahl von Untertanen. Der arme, alte König wandte sich nun diesen Bergen zu, stieg über sieben Gipfel, bis er an ein Tal mit einem Bächlein kam. Dessen Wasser waren blau, aber nicht so durchscheinend wie es reines Wasser ist, das doch den Himmel spiegelt und dessen Farbe annimmt. Er steckte einen Finger in die Flüssigkeit und zog ihn wieder heraus, und sein Finger war ganz blau. Es musste sich um einen Farbquell handeln. Als er sich umsah, gewahrte er noch andere Bächlein, die alle ihre eigene Farbe hatten und einige glitzerten und flirrten sogar in der Sonne.

Er folgte dem blauen Bach und alsbald kam er an ein Schloss, dessen Mauern aus Gebirgssteinen gehauen waren, und alle waren sehr kunstvoll bemalt und kein Stein glich dem anderen. Vergeblich suchte der arme, alte König nach einem Tor oder einer Pforte, aber ziemlich hoch ragte ein Erker heraus, indem eine Frau saß mit einem spitzen Hut, von dem ein Schleier herabfiel und schien sehr beschäftigt zu sein. Der arme, alte König rief hinauf: „Mit wem habe ich die Ehre der Begegnung so fern meines Reiches? Ich für meinen Teil bin der arme, alte König aus dem Reich, wo alle Welt nur in Kunstwerken miteinander verkehrt, aber es läuft nicht mehr so in letzter Zeit.“ „Soso“, sagte die Frau im Erker. „Ich hatte euch nach eurem Namen gefragt, wollt ihr ihn mir nicht nennen?“, bat der arme, alte König. „Was fällt dir ein, meine Mutter anzuquatschen, du alter Wichser“, sagte ein Junge, der hinter einer der Säulen hervorgetreten war. „Wir machen Dir Beine, Alter“, sagte der zweite Sohn, der hinter der anderen Säule hervortrat. „Max, Murkel, seht ihr nicht, dass dieser Mann einen sehr langen Weg hinter sich hat und wir gastfreundlicher sein sollten?“, wandte sich die Unbekannte an ihre beiden Söhne. „Max, lös doch mal deinen Mechanismus aus.“ Max zog ein paar eiserne Pflöcke heraus, mit denen der Erker an der Mauer befestigt war und sehr langsam schwebte der Erker auf den Boden. „Ihr beide geht jetzt wieder ins Schloss“, entschied die nicht mehr ganz junge Frau, in deren Gesicht sich keine Spur von Schminke zeigte, sodass Mutter Natur sie bis heute von Falten verschont hatte. Folgsam fuhren die beiden Söhne wieder aufwärts und Max verriegelte oben wieder den Erker mit eisernen Pflöcken. „Sie scheinen befehlen gewohnt zu sein. Das lässt einen hohen Stand vermuten“, nahm der arme, alte König das Gespräch wieder auf. „Ja, ich bin die Prinzessin Dreimaldreimalklug, wenn Sie das verstehen können.“ „Na klar, ich bin doch nicht dumm, habe das schon als Kind gelernt“, war die prompte Antwort des armen, alten Königs. „und sie haben schon zwei Söhne?“ „Nein drei, der dritte, der älteste ist zur See, ich habe ihn schon sechs Jahre nicht mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört.“ „Ein Abenteurer, das will mir wohl gefallen. Ist er auch so … abweisend?“ „In solchen Jugendjahren kann sich viel verändern, was weiß eine arme Mutter schon davon.“ „Eine Prinzessin immerhin.“ „Die Kinder sagen zu mir auch manchmal Napoleon, wenn ich mal wieder am Befehlen bin.“ „Das will mir wohl gefallen, eine Prinzessin, die weiß, was sie will.“

So ging das Gespräch noch eine Weile fort, bis sich der arme, alte König ein Herz fasste und frug: „Ihr Schloss darf ich nicht betreten wegen der geheimen Mixturen und Farbgerüche, aber darf ich Sie einladen, mein Reich zu besuchen, das an das Ihre grenzt, das zwar nur 452 Quadratwerst groß ist, aber in dem man nur mittels Kunstwerken untereinander verkehrt.“ „Sie wissen, dass solche Dinge – ich nehme das mal als einen galanten Antrag – immer mit einer Aufgabe verbunden sind, die fast menschenunmöglich ist?“ „Zwar bin ich nur dreimalklug und vielleicht nicht einmal das, aber ich soll sicher ihren dritten Sohn herbeiholen, nicht?“ „So ist es. Dann wäre das geklärt – und machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Intelligenz. Sie ist dem Alter entsprechend noch vorhanden.“ Einen Dank für dieses flapsige Kompliment blieb der arme, alte König schuldig, und das aus reiner Klugheit, denn er hatte wohl verstanden, dass diese Napoleonine ihn wohl auch noch unter ihre Befehlsgewalt nehmen könnte, und dazu war er doch zu sehr Mann und machte sich auf den Rückweg. Noch einmal wandte er sich um: „Und der Name?“ „Christian.“

Auf dem Rückweg machte sich der arme, alte König noch weiter seine Gedanken. Hatte er nicht nebenher selbst geklärt, woher die vielen steinernen Schlangen in den Vorgärten seines Reiches kamen? Von nichts als Steinen und farbigen Bächen umgeben, hatte diese Prinzessin Neunmalklug, natürlich Neunmalklug!, ihr Auskommen. Da sie keine Schminke trug, hatte er direkt in ihre Seele geschaut und war der Fehlstelle gewahr geworden, die bei aller erschauter Schönheit dort klaffte. Daher hatte er auch gleich erraten, was ihr fast menschenunmöglicherfüllbarer Wunsch wohl sein würde. Als er dann wieder durchs eigene Reich zu seinem Schloss wanderte, sah er jetzt die steinernen Schlangen in den Vorgärten mit anderen Augen. Sie wurden ihm zu einem Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten und den Besuch der Prinzessin Neunmalklug. Als er wieder im Schloss war, legte sich sein Alter schwer auf seine Schultern. Man könnte nun meinen, er hätte sich auch noch auf den Weg ans Meer gemacht, aber er war nur in der Lage zu schreiben:

Lieber Christian,
ich bin bis ans Ende meines Reiches und darüber hinaus gewandert. Auf diesem Wege habe ich Deine Mutter kennengelernt. Sie hat den innigen Wunsch Dich wiederzusehen. Ich weiß, Du bist schon Jahre fort von zu Hause und hast sicher viel erlebt. Solltest Du in einer der Hafenstädte mal eine Schlange der Hoffnung sehen, so wisse, sie ist von der Hand Deiner Mutter. Kehre zurück, darum bitte ich Dich.
Anno 1222
Der arme, alte König

Darauf kam keine Antwort und so rüstete sich der arme, alte König zu einer erneuten Wanderung, die ihn diesmal ans Meer führen sollte. Dort hatten ihn fast all seine Kräfte verlassen und er gedachte zu sterben. Da schrieb er noch einmal an die Prinzessin Neunmalklug:

Liebe Prinzessin,
ich habe nicht mehr die Kraft in die Hauptstadt meines kleinen Reiches zurückzukehren, aber ich würde mich trotzdem sehr freuen, wenn Sie mein Land besuchen wollten. Ich war hier auf dem Fischmarkt und habe zwei Fische lebend wiedergefunden, deren einen ich zu meinem Wappentier gemacht habe, nannte ihn wieder Christoph und den anderen Christian. Normalerweise vertragen sich diese Art Fische nicht, doch als ich sie zusammensprerren ließ, führten sie keinen Kampf um Leben und Tod, sondern eine Art Tanz auf, was sich hoffentlich nicht ändern wird, wenn ich sie zu mir ins Schloss schicke. Aber wisset, sie leben nur drei Jahre und säumt bitte nicht, sie in meinem Teich zu beobachten.
Anno 1223
Der arme alte König

Darauf starb der arme, alte König. Der Fischhändler war kein anderer als der gesuchte Christian. Er hatte die Fische aus dem Lande Siam, dem heutigen Indonesien mitgebracht und brachte nun die Fische persönlich ins Schloss, wo er seine Mutter wartend am Teich sah, sie aber jetzt wieder einen Grund zur Trauer hatte, sosehr sie sich über die Rückkehr des Sohnes auch freute. In diesem Moment kam ein Bote und verlas die letzte Nachricht des armen, alten Königs, der solle zum König gewählt werden, der diese tanzenden Fische brächte und künftig sollten zwei Fische im Wappen sein:

zwei Fische

Die Fische sahen prächtig aus und an bemalten Steinen war im 452 Quadratwerst Reich nun auch kein Mangel mehr. Die Prizessin Neunmalklug wurde Königin Mutter und von ihren drei Jungs: Christian, Max und Murkel, war der eine nun König und die anderen beiden Prinzen.

Was die Prinzessin bewegte …

… als sie allein in ihrem Schlosse ohne Tür noch Tor mit den schillernden Farbbächen ringsum vom armen, alten König verlassen worden war. Sie glaubte keine Sekunde daran, dass er ihren ältesten Sohn Christian je in der weiten Welt finden könne, ja sie zweifelte sogar daran, dass er etwas daransetzen würde. Ihre beiden verbliebenen Söhne waren ihr da ein Trost, und wenn diese auch etwas ungehobelt erschienen, als sie des armen, alten Königs ansichtig geworden waren, so hatten sie doch beide ein gutes Herz, das freilich nur der leiblichen Mutter galt, denn es wurde viel gehalten auf das Blut in dieser kleinen Familie. Sie erzählte ihnen von der Einladung, die sie erhalten hatte, und sie reagierten sehr unterschiedlich. Max wäre gern mal in die Welt hinausgezogen, aber unter der Voraussetzung, dass ihnen keine Polizei begegnete, denn diese fürchtete er mehr, als dass ihn die Abenteuerlust hinaustrieb. Murkel war der Meinung, dass sie in ihren Bergen doch alles hätten, was sie brauchten, und schließlich sei Bergsteigen doch der beste Sport. Murkel war ein bisschen dicklich – ein Erbteil seines Vaters, den er darum nicht so recht mochte. Aber er hatte eine Vorliebe für Märchen und Geschichten. Woher diese Gabe kam, konnte man gar nicht sagen, denn die Prinzessin ließ nur die notwendigsten Nachrichten an sich heran und meinte, auf mehr könne sie sich nicht konzentrieren. Murkel hing trotzdem an seiner Mutter, mehr als Max, denn er hörte auch sehr gern Musik mit ihr und hielt sich, wie sie, die eine etwas unsichere Stimme, aber in der höchsten Lage hatte, auch für einen guten Sänger, der es in der einen oder anderen Weise noch zu etwas bringen könne.

Also einer dafür und einer dagegen, sich mal auf so eine Reise ins Nachbarland zu begeben. Aber was dachte die Prinzessin selbst? Verdammt – sie könne sich nicht konzentrieren, dachte sie, tunkte einen feinen Pinsel in einen besonders glitzernden Bach und tupfte feine Punkte auf einen Stein, der danach aussah, als könne er noch ein Tierbildnis vertragen. Natürlich hatte sie auf dem Wams des armen, alten Königs diesen seltsamen und wunderschönen Fisch wahrgenommen. Die Züge des Königs wiederzugeben, konnte sie nicht, und nun denkt ihr vielleicht, sie malte stattdessen dessen Wappentier, aber nein, da geriet ihr einer der Tüpfelchen etwas größer und sprach zu ihr: „Ich bin es, Venus.“ „Ach, Du bist es, unsere schöne Nachbarin?“ „Ja, ich kann Dich etwas lehren, nämlich Dich zu konzentrieren.“ „Ich bin doch nie konzentrierter als beim Malen.“ „Du konzentrierst Dich aber dabei zu sehr auf Dich und vielleicht auf Deine Jungs.“ „Bin ich denn nicht auch das wichtigste auf der Welt und meine Jungs. Sieh, ich denke dabei auch an Christian.“ „Du bist eben eine Mutter, aber ich … .“ „Nun sag schon, was bist denn Du?“ „Ich bin eine Geliebte. Ich bin auf der Welt, dass man mich anhimmelt.“ „Und das ist, was Du mich lehren wolltest?“ „Nein, das weißt Du doch im Grunde selbst. Ich wollte Dich lehren, sich zu konzentrieren.“ „Ich bin konzentriert und gleichzeitig zerstreut mich das Malen.“ „Das ist auch gut so, doch zu welchem Ende.“ „Du meinst, ich soll reisen?“ „Nur, wenn Du jemanden brauchst, der für Dich eintritt.“ „Ich brauche jemanden, der mich nicht fallen lässt.“ „Dann reise!“

Die Prinzessin wunderte sich, dass sie nicht von selbst darauf gekommen war. Sie legte den Stein zu den fertigen und bald schon hatte sie das Gespräch mit Venus wieder völlig vergessen, denn sie konnte sich nicht nur schlecht konzentrieren, sondern hatte auch ein schlechtes Gedächtnis.

Dann packen wir’s,

sagte Murkel als die Entscheidung zur Reise gefallen war. Freilich war schon ein Jahr seit der kurzen Begegnung vergangen, aber die Prinzessin reizte auch, das Nachbarland mal zu sehen, dem sie so einen Absatz ihrer einzigartigen bemalten Steine verdankte. So klein dieses 152 Quadratwerst Reich auch war, so hatte es doch alles, was man sich vorstellen konnte: Im Norden das Meer, eine Ost- und eine Westgrenze und im Süden eben die Berge, die sie aus eigener Anschauung kannten.
Jeder packte ein, was er für richtig hielt, Max mehrere Schraubenschlüssel und einen Kreuz- und einen Minusschraubenzieher und Murkel ein Buch, um sich auch zerstreuen zu können. An Nahrungsmitteln nahmen sie Ziegenkäse mit, Tomatenmark und Nudeln, wovon man sich ja allenorts würde ernähren können und vor allem der Frau Mutter gut mundete. Die Prinzessin wollte ihren Picknickkoffer mitnehmen und sah ihn durch. Die Plastikbecher erschienen ihr zu unpersönlich und sie wollte dafür lieber Teegläser mitnehmen. Max hatte ein Segelboot als Motiv, obwohl es auch ein Lamborgini hätte sein können, auf den man aber wegen der hässlichen Abgase verzichtet hatte. Murkel hatte einen Delphin drauf, denn er war ja auch eine Wasserratte. Die Prinzessin hatte ein Motiv, das im fernen China als Symbol der Herrschaft gilt und hatte all diese Tassen auch selber gestaltet. Als sie den Koffer gerade wieder schließen wollte, sagte der sorgfältige Max, dass da noch ein Teeglas fehle. „Für den armen, alten König etwa?“, fragte ihn die Prinzessin Neunmalklug. „Nein, den kennen wir doch gar nicht, ich meine das hier“, und er hielt ihr ein Teeglas hin, das ganz hinten gestanden hatte und seit sechs Jahren schon nicht mehr benutzt worden war. „Oh ja, natürlich. Ich bin auch so etwas von vergesslich in letzter Zeit. Es könnte ja sein, dass es gebraucht wird.“ „Was bedeuten diese Kugeln und der eine mit dem Ring drumrum?“, fragte Murkel, der dieses Glas vielleicht zum ersten Mal in seinem bewussten Leben sah. „Das sind Wandelsterne, Murkel“, erwiderte die Prinzessin, „alle anderen Sterne haben nur den Tages- und den Jahreslauf und behalten ihre Positionen, aber die Wandelsterne sind immer mal woanders zu sehen.“ „So wie die Sonne, die täglich über den Himmel zieht?“ „Nein, die Sonne ist ein richtiger Stern und wenn es noch andere Wesen in unserer Milchstraße gibt, so können sie nur sie wahrnehmen und sie wäre für sie einer von hundert Milliarden Sternen, wie wir sie von uns aus sehen. Unsere Erde könnten sie schwerlich entdecken. Und dafür hat sich Christian sehr interessiert, als er in euerm Alter war.“ „Und jetzt ist er ein Seefahrer“, bemerkte Murkel. „Ein Seefahrer kann mit den Sternen und einer Uhr bestimmen, wo er sich auf dem weiten Meer befindet“, mischte sich Max nun ein, aber alle drei wussten nicht weiter und genau zu sagen, wie man das wohl macht. „Dann wird er sich sicher auch wieder nach Hause finden“, sagte Murkel und strich seiner Mama eine Strähne aus dem Gesicht.
„Wo hat denn der arme, alte König überhaupt sein Schloss?“, fragte Max noch mal sicherheitshalber. „Man sagt, es ist auf einer Insel, Karsibor im Wolziger See.“ Da platze Murkel heraus: „Karsibor, das hört sich an wie ein Zauberspruch, wie Excalibur oder wie der Drache Kalifur. Vielleicht ist es sogar verwunschen und wir müssen erst einen Zauber brechen.“ Die Prinzessin Neunmalklug wurde nachdenklich. Nach dem, was ihr der arme, alte König in ihrem kurzen Gespräch erzählt hatte, konnte das gut möglich sein. Hatte er doch zwar eine gute Idee gehabt, dem Land einen Verkehr nur in Kunstwerken zu bescheren, aber was sein persönliches Glück anbetraf, so hielt sich das doch sehr in Grenzen. Und plötzlich fiel ihr auch wieder das Gespräch mit dem Wandelstern Venus ein, das schon geraume Zeit zurücklag und sie ja schon wieder völlig vergessen hatte und sie packte auch noch den Stein mit den Tüpfelchen ein, auch wenn die Kinder maulten, dass sie noch mehr zu schleppen hätten, denn die Prinzessin selbst nahm nur ein winziges Täschchen mit. Alles andere trugen die beiden Söhne über die sieben Berge hinüber in das prätentiöse Land, das ihnen bisher nur gute Handelsgeschäfte beschert hatte, aber in dem sie nun ihr Glück zu finden hofften.

C.R. Juni/Juli/August 2022