Der Gedichtladen

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Raunächte IV

Raunächte IV

Der LKW, mit dem wir an die Ostsee unterwegs waren, hatte das Institut für Molekularbiologie zu passieren, das ja im Norden Berlins liegt. Die Tore waren von den Ingenieuren eigentlich für das Passieren noch größerer Fahrzeuge geeignet konzipiert, aber manchmal nur eine kleine Nebenpforte geöffnet. Mit mir war ein Kommilitone, aber wir waren viel jünger, Studenten noch, vielleicht. Er hatte nie durch gute Leistungen im Studium geglänzt, aber hatte ein ausgesprochenes praktisches Verständnis, sodass er manchmal den Aufpassern sogar Ratschläge geben konnte, wie die nie passierten Tore zu öffnen seien. Ich natürlich auch, denn am Rautag vorher war ich doch noch Dachdecker gewesen, wobei ich von meiner Höhenangst abgesehen hatte. Außerdem begleitete uns Marcel Poferl, der durch eine illegale Handlung in meinem Jahresbewusstsein hängen geblieben war. Wenn man aber davon absieht, zu seinem eigenen Leidwesen immer etwas unter zu panischen Vorstellungen litt. Wir hatten einiges an Zeltsachen hinterherzubringen, was den LKW erklärt, es war Donnerstag, denn mein Bruder Achim war schon mit Frau und Enkeln dort oben, schon seit Sonntag, und würde uns bestimmt schon so sonnengebräunt begegnen, als wäre es eine Fehlleistung von uns, erst gegen Ende der Woche zu kommen. Marcel sollte morgen Nachmittag wieder zurück sein in Waltersdorf und es war nur ein Gefallen, den er unserer Familie tat mitanzupacken, denn er war nicht nur panisch und eben ein bisschen kleinkriminell, sondern auch hilfsbereit.

Als wir ankamen und Marcel wohl zum ersten Mal die Ostsee gesehen hatte, suchten wir mehrere Zeltplätze ab, wo wir die überlegenen Vorausgereisten wohl finden könnten. Dabei hatten wir Gründe gehabt, dass wir erst jetzt kamen, die familiärer Natur waren, denn ich hatte meinem Vater noch ein kleines Werk zu präsentieren, immer ein Highlight in unserer nicht immer unbeschwerten Beziehung, und es hatte nichts Zweitrangiges sein dürfen, denn er hatte einen ausgeprägten literarischen Geschmack, wie auch Frau Dr. Wilke, der wir nun begegneten, und zwar in einem Ferienhaus im inzwischen mondänen Ahrenshop. Das war auch der Grund, warum wir die Vorausreisenden auf den Zeltplätzen nicht gefunden hatten, weil sie in eben diesem Ferienhaus Quartier bezogen hatten, da sie diese Unvergleichliche ja kennengelernt hatten, einerseits durch die Adressliste, die ich gedankenlos an meine Geschwister komplett weitergegeben hatte und andererseits durch die wohl philosophischste Beleidskarte, denn mein Vater war nach meiner Verlesung auch der Werke, die ich erst nach seinem Tod verfasst hatte, mit den Worten: „Christian, Du hast meine Geduld nun genug strapaziert“, entschlafen. Frau Wilke erholte sich in einem Ehebett, das in einem Schlafraum in der unteren Etage stand, und die andern, die sie kaum kannten, hatten ihr schon ein Geschenk gemacht, eine einigermaßen störrische Strandunterlage, die sie sich ins Bett legen sollte, wozu sie mich um ein Haar auch beordert hätte, aus reiner Dankbarkeit, aber wir einigten uns darauf, sie auf die andere Betthälfte zu legen, die einst ihrem Manne vorbehalten gewesen ist und jetzt schon seit Jahren nutzlos war.

Nicht dass ich meinem ältesten Bruder überhaupt begegnet wäre in diesem Traum, doch wenn ist das hinzudichte, so hat er wohl gesagt: „Jetzt kommt ihr nun erst mit den Sachen.“ Ich darauf: „Es ging nicht schneller, Du weißt, der Tod unseres Vaters ist dazwischengekommen, da war noch einiges zu erledigen.“ Da hätte er mich beinahe aus dem Traum gehauen, indem er sagte, dass das alles doch eine Sache von einem halben Jahr gewesen ist und wir doch jetzt Winter hätten, wenn ich erst jetzt darauf käme, könnten wir folglich gar nicht im Sommerurlaub an der Ostsee sein, ob ich denn so verrückt sei, dass ich dieser simplen Logoik nicht folgen könne. Im Übrigen sei jetzt eben Sommer und nicht die Zeit der Träume. Aber in Wirklichkeit ist er mir im Traum eben gar nicht begegnet.

Die untere Etage war stilvoll eingerichtet, mit einem großen Essensaal, und es war schon für die Getränke gedeckt. Da begann mich Marcel schon zu nerven, wie er denn bis morgen wieder nach Hause kommen solle. Das sei kein Problem, er müsse nur erst nach Prenzlau kommen, zur Not mit dem Bus (wobei mir klar war, dass der Bus eigentlich zu teuer gewesen wäre für ihn, aber in Anbetracht seiner Schulden bei mir, wollte ich ihm auch nichts borgen). Er war noch der einzige am Tisch, die Kinder waren in der Küche zugange, und die Frauen wohl auch. Marcel hatte immerhin schon zwei Bierbämbel vor sich, die er aber unberührt ließ. Schließlich verschwand auch er, und ich war in dem kleinen Saal ganz allein. Es überkam mich ein großer Durst und ich erwog, die verlassenen Biere auszutrinken, aber mir war eher nach was Antialkoholischem. Ich ging in die Küche zu den Frauen und Enkelkindern meines Bruders und sah neben einem Gestell eine Reihe Glasflaschen mit angeschlagenen Glasknaufverschlüssen stehen. Versehentlich stieß ich eine um, die zwar nicht entzwei ging, aber weitere Splitter sich von den Knäufen lösten. Das brachte mir eine Rüge der Frauen wegen der barfuß herumlaufenden Enkel ein und ließ sich auf dem feuchten Fliesenboden auch nicht so leicht durch Fegen beseitigen. Nun war eben auch Wasserknappheit in dem Urlaubsort, aber alle hatten sich genug Vorräte angelegt, sodass ich schließlich doch einen gefüllten Wischeimer besorgen konnte. Die eine der Frauen, die sich jetzt als meine Vorgesetzte darstellte, hatte auch einen feuchten Lappen, aber wischte nicht den besplitterten Boden, sondern Tatschabdrücke der Kinder von der Fliesenwand. Das könne ich auch, sagte ich mir, und wischte ebenfalls zunächst eine der Wände ab, bevor ich dann den Boden endgültig von den Splittern befreite, und als ich damit fertig war, waren außer Frau Wilke alle in der unteren Etage verschwunden. Keiner hatte sich um die halbgedeckten Tische im Saal gekümmert und Marcels beide Biere standen immer noch verwaist da.

Ich ging der Sache nach, stieg eine Leiter auf den Spitzboden herauf, und da saßen sie alle beim Essen und hatten nicht Mühe gescheut, alles an diesen unkomfortableren Ort geschafft zu haben und nichts davon verlauten zu lassen.

Ich ließ es wortlos dabei bewenden und machte mich auf eine kleine Wanderschaft durch den Ort, der sich inzwischen herausgemacht hatte vom Katendorf zu einer Art Binz. Erst jetzt bemerkte ich überall die Vorratsbehälter wegen der Süßwasserknappheit. Ein Mann beklagte mir gegenüber den Umstand, dass, wenn man auch nur einen halben Quadratmeter Rasen anlegen wolle, man einen förmlichen Antrag würde stellen müssen, ein Verfahren, der jedem Deutschen im Grunde klar ist, sonst müsse man eben auswandern.

Dem Traum ist es auch geschuldet, dass ich schließlich, Marcel werden die anderen schon zu seiner pünktlichen Rückkunft verholfen haben, wieder an dem Institut für Molekularbiologie anlangte, das sich mal eben jetzt dort oben befand. Sie hatten zwar nichts bezüglich des Coronavirus herausgefunden, obwohl sie über einen Labortrakt verfügen, den man nur durch Tauchen erreichen konnte, wegen der gefährlichen Viren, mit denen sie umgingen, die Sicherheitsbedingungen hatten sie aber weitgehend verinnerlicht. Dort war sogar eine kulturelle Veranstaltung avisiert, zuvor müsse man sich aber am Buffet bedienen, das sehr reichhaltig war, aber nur mit Maske und Abstand zu genießen war. Das nahm ich gern in Kauf, denn zu meinem Durst hatte sich nun auch Hunger gesellt. Die Ausstellung, die man im Anschluss genießen könne, waren animierte Stadtansichten und das Autorenpaar kam mir bekannt vor. Die Töchter der Künstlerin hatten sich mir gegenüber schon etwas abschätzig über Zeichentrick geäußert, der in die nicht gerade sensationellen Ansichten reingeschummelt worden war. Was ich dann allerdings sah, überwältigte mich. Die gestochen scharfen Fotos von Baustellen und fertigen Straßenzügen, die die Größe von Werbeplakatwänden hatten, also übermannshoch und breit waren, erwachten mit einem Mal zum Leben. Aus einem winzigen Punkt entwickelte sich ein respektables Michelinmännchen, das zur Kranhöhe anwuchs, die Kräne aber nicht anrührte, die es mit Leichtigkeit hätte umschubsen können, sondern sich nach Affenart auf Brust und Schenkel schlug, und ähnliche beeindruckende Animationen, die wirklich echt wirkten.
Der Partner zeigte mir dann auch die Technik des Zauberwerkes, die ebenfalls in einem LKW (man könnte diesen Rautraum auch als LKW Traum bezeichnen) bestand, der neben turmartigen Spiegelscannern auch einen riesigen Beamer trug, wie ich einen noch nie zuvor gesehen hatte. So ein Aufwand für eine schwach besuchte Ausstellung, aber es kam ja mit einem Mal auf Millionen, was sage ich, Milliarden und Billionen, nicht mehr an, denn es vollendete sich das vollendete Krisenjahr 2020.

C.R. 31.12.2020