Die schöne, gewitzte und etwas grauselige Prinzessin
Einige Märchen beginnen nicht einfach mit „Es war einmal …“, sondern wie dieses hier mit dem allenthalben bekannten Dilemma. Papa König möchte sein Töchterlein verheiraten, um sein Reich zu festigen und zukünftig durch Enkelchen, möglichst männlich, zu sichern. Doch wie Jugendliche so sind, eigenwillig, sträubt sich das Prinzesslein gegen eine Heirat, von der sie ahnt, dass sie für ihre Freiheiten arge Einschränkungen mit sich bringen dürfte.
Nun hat der König das Glück, dass die Prinzessin sehr hübsch ist und er darf auf zahlreiche Freier zu vorteilhafter Auswahl hoffen. Zugleich aber hat er das Pech, dass seine widerspenstige Tochter, einigermaßen gewitzt, immer wieder triftige Gründe anführt, eine Heirat zu vermeiden. So geht das eine Zeitlang. Doch dann wird der alternde König ungeduldig und unnachsichtig. Die Tochter weiß nun, dass sie den Vater nicht weiter hinhalten kann, will aber weiterhin keine Heirat eingehen.
Sie schlägt dem Vater einen grausamen Kompromiss vor. „Vater“, sagt sie, „Du wirst bestrebt sein, einen wirklich würdigen, tatkräftigen und mutig führungsstarken Nachfolger haben zu wollen, nicht wahr?“
„Freilich“, antwortet der König, „so soll es sein!“
„Nun“ erwidert die Tochter, dann bedarf es eines strengen Auswahlsystems.“
„Ja, Tochter!“
Und die Prinzessin schlägt vor: „Gut, ich bin bereit zu heiraten. Aber jedweder Heiratsbewerber muss eine Aufgabe lösen. Es ist eine garantiert lösbare Aufgabe. Der Freier muss nur einen einzigen Satz sagen. Allerdings darf dieser Satz weder wahr, noch gelogen sein. Sätze, die sich als wahr oder aber gelogen erweisen, sollen aber strikt geahndet werden.
Nämlich, wer nachweislich die Wahrheit sagt, soll geköpft werden. Wer aber eindeutig lügt, soll gehenkt werden!“
Der König, der ein guter König war und sich der Hoffart seiner Tochter wohl bewusst, fragte sie nun, was denn die Lösung des Rätsels sei, doch sie erwiderte schnippisch, dass er das schon sehen werde.
Als erster Bewerber trat Prinz Christian aus dem Waltersdorfe ein und hörte sich die Bedingungen an. Als er die Bedingen vernommen hatte, schnippte er mit den Fingern einen Bediensteten heran, der sein Smartphone zückte und die Geschichte bis hierhin eingab. Die KI sagte aber nur:
‚Das ist ein cleveres Märchen! 😊
Ich denke, ich habe die Lösung: Der Ritter sagt: „Du wirst mich hängen.“
Wenn der Satz wahr wäre, würde das bedeuten, dass der Ritter tatsächlich gehängt werden müsste. Aber das würde bedeuten, dass der Satz gelogen ist, weil die Regel besagt, dass Lügner gehängt werden.
Wenn der Satz jedoch gelogen wäre, würde das bedeuten, dass der Ritter nicht gehängt werden müsste. Aber das würde wiederum bedeuten, dass der Satz wahr ist, weil die Regel besagt, dass Wahrheitsliebende geköpft werden.
Da der Satz weder wahr noch gelogen sein kann, ohne dass es zu einem Widerspruch kommt, kann der König nicht entscheiden, ob der Ritter gehängt oder geköpft werden soll. Der Ritter hat also die Aufgabe gelöst und die Prinzessin muss ihn heiraten! 😄‘
Die Prinzessin erbleichte. Dass gleich der erstbeste das rauskriegt, hätte sie nicht nicht gedacht, und zudem, ohne ein bisschen nachzudenken. Sie spürte schon die Schmerzen, die es bereiten würde, sich diesem Lackaffen hingeben zu müssen und ihm sogar Thronfolger zu bescheren.
Hilfesuchend blickte sie zu ihrem Vater auf, der in Sinnen versunken war. „Man rufe meinen Mathematicus herbei“, befahl der König, der sogleich, noch mit einem Wuschelkopf vom Nachdenken, erschien. Der brachte das Rätsel der Prinzessin zu Papier und besah es sich eine Weile und notierte auch den Satz des Prinzen.
„Ich empfehle Ihrer Majestät, diesem Prinzen anzudrohen, erst seiner Erwartung gemäß gehenkt zu werden und dass er, falls er von seinem Antrag nicht absteht, zudem noch geköpft werde, weil er ja dann die Wahrheit gesagt hat. Dass er gehenkt wird, wenn er lügt, bedeutet ja nicht, dass er nicht auch gehenkt werden könnte, wenn er die Wahrheit sagt. Er muss dann eben nur noch auch geköpft werden, wie es die Prinzessin offenbar wünscht. Man nennt das in Mathematikerkreisen Implikation. Die Wirkung, dass er gehenkt wird, kann durch mehrere Ursachen eintreten, nicht nur durch Lüge, sondern auch durch die Erwartung gehenkt zu werden.“
Das verstand nun zwar der weise König und der Prinz lediglich, dass ihm etwas Unangenehmes blühen könnte, packte seinen Tross mitsamt KI ein und verließ fluchtartig der Thronsaal.
„War dieser Satz das, was Du erwartet hattest?“, wandte sich der König an die Prinzessin, der die Gegenwart des Mathematicus sichtlich unangenehm war, dessen Unterricht sie nur allzu oft mit mädchenhaftem Schabernack sabotiert hatte. Sie nickte verlegen.
„Können Sie das Rätsel irgendwie reparieren?“, wandte sich nun der König an den Mathematicus.
Der sagte: „Korrekt ausgedrückt, müsste es heißen: Der Freier werde dann und nur dann geköpft, wenn er die Wahrheit sagte und dann und nur dann gehenkt, wenn er lügt.“
Das wurde nun erst einmal gründlich in eine Steintafel gemeißelt und gedruckt verbreitet, wobei sich lange Zeit kein Bewerber mehr fand.
Nach etwa drei Wochen fand sich Ritter Thomas zu Prenzelberge ein. Er hatte noch das Flugblatt in der Hand und alle warteten auf seinen Satz. Er sog noch mal genüsslich an seiner Pfeife, hob sie dann und in die eintretende Stille sagte er dann:
„Ich sage nichts.“
Das war nun allerdings des Rätsels Lösung und ganz aus sich heraus gefunden, aber die Prinzessin reckte sich zum Ohr des Vaters auf und flüsterte: „BItte nicht.“ Der König hüllte sich in Schweigen.
„Schmeckt Ihnen denn die Pfeife?“, wollte sich die Prinzessin als höflich erweisen.
„Gewiss doch, schöne Prinzessin.“
„Jetzt droht Ihnen doch geköpft zu werden, denn bisher haben Sie ja noch nichts gesagt und das war ein Satz von reiner Wahrheit. Aber, und das ist nun mein Ratschluss, ich will noch einen Bewerber abwarten und wenn der es nicht bringt, dann soll die Prinzessin in Gottes Namen als alte Jungfer sterben“, versetzte der König.
Und noch ehe sich der Qualm und der vorletzte Freier verzogen hatten, kniete vor dem Thron schon ein neuer Bewerber in einem golddurchwirkten brokatenen Gewand. Sein Antlitz war gefällig und auch er hatte eines der Flugblätter in der Hand:
„Guten Tag“, sagte er.
Der König war verdutzt: „Meinst Du einen guten Tag für mich, oder für die Prinzessin?“ (er hatte sich des wohlgefälligen Blicks seiner Tochter auf diesen Ritter der als Mark II. von Entenfangswerder gemeldet worden war, versichert) „Für mich ist es ein guter Tag und wie ich sehe für die Prinzessin auch, aber wenn das stimmen sollte, ist es nicht gerade ein guter Tag für Dich. … Aber ich muss sagen, ich habe den ganzen Firlefanz jetzt satt. Gefällt sie Dir, wie Du ihr?“
„Soll ich jetzt lieber sagen: Ja und Nein? Da warte ich lieber bis zur Hochzeitsnacht, wo ich sie ohne alle Drapage würde bewundern können.“
„Recht so“, sprach der König, gab beider Hände ineinander, und so ward der Bund ohne allen Pomp geschlossen. Die beiden konnten schon in dieser Nacht einander erkennen. Der Mathematicus wurde zu Nachhilfestunden bestellt und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
CER, TS und MT 8.12.2025