Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW21

Burattino

 

Manch einer wird das Holzmännchen mit der spitzen Nase eher als Pinocchio ken­nen, der Disneyvariante, aber wir bevor­zugen die russische Version von Alexej Tolstoi.
Die Biographien der beiden Cousins Lew und Alexej Tolstoi ähneln sich ein wenig. Nach einer ausschweifenden Jugend wurden beide dann im vorgerückten Alter Moralisten, was doch immer kein Kunststück ist, wenn man vorher ausgie­big gesündigt hat. Beide hatten auch pädagogische Ambitionen, vielleicht um bei anderen von Jugend an zu errei­chen, was den adligen Lebemännern selbst erst im Alter gegeben war.
Man kann sich gut vorstellen, wie sich eine solche schlanke Holzpuppe bewegt. Es fällt ihr nicht schwer, im Sitzen die Beine unter das Kinn zu ziehen und wenn sie mit einem Arm winkt, beweist nicht nur sie selbst, sondern auch der Arm ein seltsames Eigenleben.
Letztendlich wäre da noch der Mund, der von einem Ohr zum anderen reicht, der lustig oder leidverzerrt sein kann, aber in allem seine Anmut behält.
Alexej Tolstoi schuf seinen Helden nach einem italienischen Vorbild und die Ge­schichte muss so inspirierend für ihn ge­we­sen sein, dass er sein Lebtag immer wieder Abenteuer dazu ausdachte und sie dann eines Tages alle aufgeschrieben hat. Seine Geschichte hat nicht weniger als neun Hauptfiguren und so ziemlich alles, was in der Natur kreucht und fleucht, kommt noch zusätzlich in dem Buch vor.
Burattino geht trotz konventioneller Maß­gaben, dass er zur Schule gehen soll und sein Schöpfer Papa Carlo sogar seine Weste für eine Fibel hergibt, den Weg des Abenteuers und dieses heißt Theater, genauer Puppentheater.
Die Puppen, die unter dem drakonischen Regime des Marionettendoktors Barabas stehen, erkennen Burattino gleich als Identifikationsfigur und holen ihn auf die Bühne und drücken und herzen ihn. Ba­rabas will ihn zur Strafe für die Störung der Vorstellung gleich mal verheizen, als er aber hört, dass er eine Schöpfung des Papa Carlo ist, gibt er ihm für diesen so­gar fünf Goldstücke mit, die dem uner­fah­renen Burattino, der ja noch nichts gelernt hatte, alsbald wieder abgejagt werden. Da geht es durch Feld und Flur und der Held trifft auch auf den ersten Exilanten der Puppentruppe, das Mäd­chen mit den blauen Haaren Mal­wina, die sich von Tieren versorgen lässt.
Nach einigen Verfolgungsjagden und Kabinettsstückchen Burattinos kommt dann auch das goldene Schlüsselchen ins Spiel, von dem man denken könnte, es würde Zugang zu irgendeinem geistlosen Schatz gewähren, aber der Autor hat ei­nen viel besseren Einfall, den wir hier nicht verraten wollen.
Dass Burattino so ein toller Held ist, wuss­­te ich noch gar nicht, als ich einer jungen Frau diesen Spitznamen gab, denn es wa­ren die gleichen Bewegun­gen, der glei­che Mund und wieviel Mut zu ihrer Le­bens­geschichte, die mir später zu Ohren kam, gehörte, war mir da na­türlich auch noch nicht klar.
Dann wurde ich noch Zeuge einer wun­dersamen Wandlung dieser Jugendlichen vom absoluten Durchgeknalltsein, einer Hülle, die nur noch absolute Liebe durch­dringen konnte, zu einer Liebenswerten mit einem ansteckendem Lachen.
Nun raten Sie wieder, liebe Leser, wo der­gleichen wohl geschehen können mag. Sehen Sie sich in Ihren Lebensbe­reichen um, ob Sie solcherlei berichten können, denn schreiben kann man doch eigentlich nur Erlebtes.

Im Waltersdorfe 18. Mai 2012