Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne Nummer 27/2019 „Die vermissten sechs Minuten“

Die vermissten sechs Minuten

Immer wieder trifft man kleine Denkaufgaben an der Ostsee an, die dann mit sehr dürftigen Mitteln gelöst werden müssen und manchmal auch als ungelöst in das wahre Leben erst mal mitgenommen werden. Das hat den Vor- oder Nachteil, dass das Arbeitspensum, das man sich für den Urlaub vornimmt, nicht ganz erledigt ist und damit auch der Urlaub eben noch nicht ganz beendet.

Da ich immer ein Mal im Urlaub einen Sonnenaufgang betrachten möchte, wozu ja das Wetter sein muss und man eben früh genug aufstehen, habe ich versucht die Zeit zu ermitteln, auf die man den Wecker stellen muss. Da morgens bei schon fast Tageshelle, die Zeit am Strand zu verbringen, nicht ganz umsonst ist, aber man keinesfalls zu spät erscheinen darf, wenn dann die Sonne schon ziemlich schnell über dem Meer schwebt und es mir erst am 16. Juli eingefallen ist, als der Abend klar war und man bis nach Mittenacht eine Zweidrittelmondfinsternis betrachten konnte, die mich völlig überrascht hat, da ich eigentlich nur den von meiner Exfrau angekündigten Vollmond betrachten wollte und dann eine liegende Sichel gleich einem orientalischen Halbmond vorfand und meinen Augen nicht traute, da war also schon, als ich es auch noch meinen Töchtern gezeigt hatte, ein Gutteil der Nacht vergangen und von allein wäre ich da bestimmt nicht aufgewacht (ist das nicht ein Satz, eines Thomas Mann würdig?). Also um zehn war die Sonne bestimmt schon untergegangen, macht zu 13 Uhr 9 Stunden, also den Wecker auf morgens um vier gestellt. Da musste ich dann allerdings eine ganze Weile am Strand warten und Clärchen ging erst etwa fünf vor fünf auf, also fast um eine Stunde verrechnet, ganz genau hatte ich gar nicht auf die Zeit geguckt, denn das Schauspiel ist überwältigend. Dann immer noch schönes Wetter und abends festgestellt, dass die Sonne vielleicht so 21:30 Uhr unterging, also unterschieden sich die Zeiten von Aufgang bis Mittag und von Mittag bis zum Untergang um etwa 25 Minuten. Könnte das am Längengrad liegen?, fragte ich mich, aber das machte nur 14 Minuten aus, wo kamen die anderen elf her?

Erst hier in Zeuthen konnte ich das lösen, da ich mich mal mit einem sog. Analemma beschäftigt habe, das den Sonnenstand zu gleichen Zeiten anzeigt, aussieht wie eine Acht und auf die Keplersche Bewegung der Erdbahn und die Neigung der Erdachse zurückzuführen ist. Dieser Effekt ergänzt das Bild zu genau den richtigen Werten und macht eine Verschiebung des Mittags am Mövenort von sechs Minuten aus. Da können sie dort nun getrost das Mittagbrot um 13:13 Uhr auf den Tisch stellen und machen alles richtig.

Christian Rempel in Zeuthen, den 22.7.2019