Der Gedichtladen

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Kolumne KW36 „Brisanz“

Brisanz

 

Gibt ein brisanteres Thema derzeit als Flucht? Dem wollten sich die unDichter am letzten Wochenende in einem Seminar stellen. Erste Beiträge dazu gibt es schon. Sie beschäftigen sich mit der Empathie, die man gegenüber Flüchtlingen entwickeln kann, aber auch mit der eigenen Geschichte, als 12 bis 14 Mio Deutsche auf der Flucht waren, was ja jetzt so 70 Jahre her ist.


Dieser als Vertreibung bezeichnete Vorgang, hat viele geschichtliche Facetten, Parallelen und soll auch jetzt dazu dienen, das Mitgefühl mit den heutigen Flüchtlingen aufzubauen und von Zweifeln zu bereinigen. Manchmal reicht das bis in die, Dichtern verschlossene, Sphären der Rechtmäßigkeit, aber die Berechtigung ist ein weit zugänglicher Maßstab. Auch Kategorien von Schuld und Rache spielen da sicherlich herein.

Es ist natürlich leichter, Empathie für die eigenen Volksgenossen zu empfinden, als für Fremde, von denen man nicht genau weiß, wie lauter ihre Motive zur Flucht hierher waren und deren Prüfung ja wohl auch zwei Jahre dauert, eine Zeit, die ausreicht, um ein Gewohnheitsrecht abzuleiten und man muss sich dann schon fragen, ob man Menschen, die dann so lange hier waren, einfach wieder zurückschicken kann. Hier stellen wir uns mit unserer eigenen Bürokratie ein Bein, die sich doch allzu leicht ausnutzen lässt.

„Es gibt keine Flieger für Flüchtlinge“ lautete da eine Formulierung der unDichter, aber man kann sich fragen, warum eigentlich nicht. 1989 haben sich die deutschen Republikflüchtlinge aus der DDR in den ausländischen Botschaften gesammelt und sie wurden dann zwar nicht in den Westen ausgeflogen, aber immerhin Züge bereitgestellt. Sogar Ausfliegen wäre heutzutage gerecht­fertigt, bei den materiellen Möglich­kei­ten, die es gibt, und wenn man einen fragwür­digen Sortieralgo­rithmus vermeiden möchte, der durch daran verdienende Schlepper gegeben ist und der sich den Menschen in echter Not doch gar nicht als Alternative stellt, dann kann man nur an Aufnahme­möglichkeiten vor Ort denken. Flüge sind teuer, aber die Milliarden sind auch nicht wenig, die wir uns für uns übergeholfene Probleme leisten.

Lässt man sich aber nicht durch die Medien berieseln und manchmal sogar manipulieren, dann ergibt sich Brisanz aus ganz anderen Punkten. Da ist es eher die Frage unseres gegenseitigen Umgangs miteinander, der doch einen Teil unserer Kultur darstellt und einen Wert, den man ja schließlich auch diesen Ankömmlingen gerne näher brächte, wenn sie ihn nicht sowieso schon eher mitbringen, weil sie aus viel dichteren Gesellschaften stammen und sich vielleicht nur nicht so artikulieren können.

Wir können uns auch immer weniger artikulieren, besonders schriftlich ist das der Fall. Da wird nicht erwidert, wenn es die Höflichkeit erfordern würde. Da wird nicht mehr durchdacht, was man zu Papier oder ins Netz bringt. Man hört eher auf Gebrüll und kann sich ebenso leicht davon distanzieren, als auf eine dezidiert gesetzte Meinung, gerade wenn sie Abstand hat zur allgemeinen Hochgeputschtheit. Also schreiben wir und brüllen nicht nur, empfinden wir uns auch noch sehr als Leuen.

Man muss sich auch klar sein, dass die größte Einladung zur Flucht hierher, gar nicht von unserer Kultur und der erträglichen Fremdentoleranz ausgeht, die sich weniger herumgesprochen haben werden, als unser Wohlstand. Der Knackpunkt, dass es arme und reiche Länder gibt, scheint weitgehend außer Sicht geraten und dass es dafür nur zwei Lösungen gibt, dass entweder wir zugunsten anderer etwas aufgeben müssten oder die Armen sich mit ihrem Schicksal abfinden. Welches Medium legt sich heute neben den Verhungernden nieder, der schon zu schwach ist zur Flucht, welches Medium liefert nicht lieber Panikmache an der Oberfläche, statt Mitgefühl und Lauterkeit.

Christian Rempel im Waltersdorfe, den 7.9.2015