Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Rezension zum „Zauberberg“

Perlen im Meer der Geschwätzigkeit

Wieder einmal war eine Schuld abzutragen, die sich seit Jahren im Bücherschrank befand, leichtsinnig gekauft und schweren Zeitaufwandes nötig, wenn man dem Autor Thomas Mann die Referenz erweisen möchte und den „Zauberberg“ von Anfang bis Ende durchliest. Wie man an den Daten der Rempelbooks sieht, hat mich das ein viertel Jahr gekostet, in dem ich freilich auch noch anderes zu tun hatte, als dieses Epos über die Wert- und Maßlosigkeit der Zeit auf mich einwirken zu lassen, was ich natürlich auch immer mit Versuchen begleitete, anderen dieses selbstlose Tun vor Augen zu führen, denen ich ja unnötige Zeitverschwendung ersparen möchte, nicht nur als Dienstleister am Dichter also, sondern auch Dienstleister an der Jetztwelt.

Die beste Idee ist vielleicht der Titel des Buches, der Phantastisches erwarten lässt und tatsächlich wirkt auf den Helden Hans Castorp sogleich ein profaner Zauber als er seinen Vetter besucht, der durch sein späteres Hinscheiden beweist, dass er wirklich krank war, während beim Helden nicht klar ist, inwieweit der Kuraufenthalt nicht einfach Vorwand ist, mal ein anderes Leben zu führen, als ihm durch seine Ingenieurausbildung bestimmt.

Da war wohl keiner, der dem Autor, der angeblich täglich eine Seite geschrieben haben soll und mit diesem Roman 12 Jahre lang beschäftigt war, mal gesagt hätte: halte ein, streich zusammen, beschränke Dich auf das Wesentliche. Zwar ist die Welt einer Lungenheilklinik wesentlich kleiner als die entgegengesetzte des Flachlandes, aber groß genug, dass einer Vielzahl von Personen Erwähnung getan werden kann, die nur bedingt etwas mit der Fabel zu tun haben. Worin diese nun eigentlich besteht, kann man in professionellen Rezensionen nachlesen, die allerdings nicht zu dem Schluss eines Geschwätzigkeitsmeeres gelangen, sondern das Werk vielmehr als Weltliteratur einordnen und so jedem anheim stellen, es von Anfang bis Ende zu lesen.

Der Held ist eigentlich einer, der sich nicht an den Müßiggang gewöhnen kann, immer ein bisschen eine besondere Stellung unter den Patienten einnimmt und im Verlaufe des Romans von einem untypischen Bildungshunger befallen wird, der sich aber dann wieder verliert, als auch dem Autor die Lust an dem Roman verlustig geht, was man nicht daran merken kann, dass er endigen würde, sondern sich so äußert, dass er immer mehr Details aufwühlt und die Klinikwelt zum Schluss noch durch ein Grammophon und spiritistische Sitzungen anreichert, die bis zur totalen Erschöpfung des Lesers beschrieben werden. Diese Zerstreuungen erhalten besonderen Wert vor dem Hintergrund eines außerordentlich langweiligen Kliniklebens, das zu einem Gutteil aus üppigem Essen und Liegekuren besteht.

Perlen sind ja gewöhnlich klein, aber von hohem Wert. Vielleicht möchtest Du, ohne Dich der ganzen Marter eines endlosen Romans zu unterziehen, das finis operis schneller erreichen als auf dem von mir gewähltem Weg der Ehrfurcht und der gutwilligsten Erwartung. Perlen besitzen ihren Glanz ja auch, ohne der Rauheit und Grenzenlosigkeit des Meeres gegenüber­zustehen. Ob sie nur als wertvoll erscheinen mögen, wenn man sich durch`s Ganze hindurch­gekämpft hat, kann ich nicht mehr beurteilen, denn diese Tatsache habe ich ja nun mit großem Zeitaufwand geschaffen.

Wollte man zunächst eingrenzen, worin der Zauber dieser fast hundert Jahre zurückliegen­den Vorgänge bestehen könnte, da ist dies zweifellos die Konversation, die sich zwar so auch nicht wird zugetragen haben, aber es muss ja zumindest eine Zeit gewesen sein, wo solches noch erdacht werden konnte. Es gibt nun zwei intellektuelle Partner, einen Italiener namens Settembrini, der zunächst noch Patient ist und sich dann privat unterbringt am Orte der bronchialen Gesundung und einen Jesuiten Naphta, der umfassender Seelenformung nicht mehr nachgehen kann, weil er ebenfalls erkrankt ist.

Eine solche Perle befindet sich im sechsten Kapitel unter der Teilüberschrift: Vom Gottesstaat und von übler Erlösung, wo der Eilige getrost auch noch die ersten 18 Seiten überschlagen kann und auch das Ende nicht zu lesen braucht, aber einsetzen sollte mit der Lektüre bei einer interessanten pädagogischen Bemerkung, die durch die Formel eingeleitet wird: „Ich suchte Logik in unser Gespräch einzuführen, …“ Naphta hatte vorher das Mittelalter gestreift und eine Lanze für die Scholastik gebrochen, aber in dieser Passage entwickelt er die Einsicht in die tiefere Neigung der Jugend, die sich nach Drill sehne und Lust im Gehorsam entfalte, um dann die Verschmelzung von religiöser und proletarischer Bewegung auszuführen.

Da man nun solch Sozialistisches selbst erfahren hat, ohne dass, in der von uns erlebten Spielart, von der Instrumentalisierung der Religion hätte die Rede sein können, man sich im Gegenteil dieser harsch entgegengesetzt hatte, sie als Opium und Privatsache abqualifiziert gerade noch hatte gelten lassen, kommt einem das vom Autor Entwickelte wie eine Vorweg­nah­me einer glücklicheren Variante vor, wenn die Gemeinsamkeiten von Kommunismus und Religionsbegriff genutzt worden wären. Die Religion in ihrem Eigenleben ist doch derart anspruchslos, dass ihr nicht viel mehr als Wohlwollen entgegengebracht werden muss, das wäre doch zu machen gewesen.

Wollte man nun die Perlen rein intellektueller Natur sein lassen, wäre die Suche bereits vollendet. Man kann zwar auch dem Demokraten und Freimaurer Settembrini einiges abgewinnen, aber dessen Gedankenschärfe und Originalität wird durch den brillanteren, wenn auch für unsympathischer erklärten, Naphta eben in den Schatten gestellt.

Der Geniestreich des Intellektuellen Thomas Mann aber ist, dass er selbst die Intellektua­lität, die er einmal in diesen beiden Figuren auf die ultimative Spitze getrieben hat, auch noch zu überbieten weiß, und das natürlich nicht mehr durch eine noch höher stehende Intellektua­lität, sondern durch eine Persönlichkeit, womit ihm der Höhepunkt des Buches durchaus gelingt und er dann nur noch zu tun hat, doch endlich den Schluss zu finden, was als weniger geglücktes Unterfangen zu sehen wir uns anmaßen.

Diese zweite Perle ist also die Gestalt des Pieter Peeperkorn, der als Reisebegleiter der vom Helden geliebten Frau Chauchat gegen Ende des Buches auftritt. Hier sei der eilige Leser auf den Abschnitt Vingt et un des siebten Kapitels verwiesen, wo man auch wieder einige Seiten überschlagen darf und vielleicht dort einsetzen sollte, wo die Persönlichkeit im Fortgang eines abendlichen Spiels sagt: „Kreischen Sie kreischen Sie, Madame. Es klingt schrill und lebensvoll und kommt aus tiefster – Trinken Sie, …“ Das Trinkgelage bringt jedwede Intellektualität natürlich zum Erliegen, nicht aber die bis in tiefsten Rausch hinein wirksame Persönlichkeit. Die Stadien dieser Trunkenheit werden so bildhaft beschrieben, dass man diese Passagen auf der Stelle seiner Frau vorlesen möchte oder einem anderen Anteil geben möchte an dieser Wortkunst und diesem Witz.

Verzeihlich erscheint auch, dass die große Persönlichkeit sich noch messen kann mit den waschechten Intellektuellen, dabei ein wenig an Glanz einbüßt, aber der grundsätzlichen Überlegenheit des Habitus über die Arbeit des Kopfes keinen Abbruch tut. Das könnte eine message sein, wenn sich nur Persönlichkeit so erwerben ließe, wie es bei der Intellektualität partiell noch der Fall ist. Aber wir können es nicht üben, auf andere Menschen unbezwing­baren Einfluss zu haben, das ist einem einfach in die Wiege gelegt und ebenso wenig wäre eine Welt denkbar, die nur noch aus Persönlichkeiten besteht und keiner mehr ist, der das Publikum abgeben wollte.

Also bescheiden wir uns mit unseren eigenen Gegebenheiten und beweisen unsere kleine Überlegenheit dadurch, dass wir zu einem Schluss finden, ohne auch nur allzuviel gesagt zu haben. Ich möchte Dich, mein Freund, nicht in ein nutzloses Unterfangen verwickeln, aber da Du Interesse signalisiertest, dieses wenige hier stehenlassen.

C.R. www.gedichtladen.de 14.10.2010