Der Gedichtladen

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Momo – das Leseerlebnis

Momo – das Leseerlebnis

Nur drei lange Abende hat es gedauert, dass ich meiner Freundin Momo vorgelesen hatte. Die Kinder hätten sich die Neuverfilmung dazu um ein Haar angesehen, aber da der Film bereits halb drei begann, waren sie noch nicht ganz startklar. Da hatten wir uns kurz entschlossen und haben uns den für Kinder gedachten Märchenfilm angesehen. Da ich das Buch noch nicht gelesen hatte, besorgte ich es mir anschließend aus der Bibliothek, wo es zwar gerade verliehen war, aber nach zwei Tagen ein weiteres Exemplar zur Verfügung stand, das zwar nur ein Paperback war, aber immerhin die eigenhändigen Zeichnungen von Michael Ende enthielt. Eigentlich sollte dieses ans Philosophische grenzende Buch nur in Goldschnitt gefasst und ledergebunden angeboten werden.

Der Film, obwohl mit großem Aufwand hergestellt, hatte mich nicht ganz überzeugt. Er verbleibt im typisch Europäischen, das in deutscher Version (obwohl der Film in Englisch aufgenommen wurde) sich versucht den amerikanischen Vorbildern anzudienen, ihm aber der Schuss Seele und das Gran Humor fehlen, das die originalen Produktionen auszeichnet.

Was bringt nun das Buch, was der Film nicht kann. Zunächst regt es viel stärker die Phantasie an, was nun leider durch den Film schon weitgehend verdorben war. Dabei ist es ein Buch der Phantasie, wenn der Autor Michael Ende die Spiele der Kinder in dem verlassenen Amphitheater, in dem Momo haust, beschreibt. Da sieht man dann, wie ein gewöhnliches freies Spiel zu einer erzählten Geschichte gerinnt, die immer noch ahnen lässt, mit welcher Hingabe die Kinder sie gespielt haben müssen. Da wird Kritik geübt an dem mechanischen und teuren Spielzeug, das die Phantasie verkümmern lässt. Da wird glaubhaft gemacht, welche Geschichten Gigi Fremdenführer, einer der engsten Freunde von Momo den staunenden Zuhörern erzählt und wie er sie austrickst.

Aber auch die stringente Logik ist hervorzuheben. Alle gemachten Aussagen sind belastbar und die grauen Männer, die die gestohlene Zeit aufrauchen (was im Film aus pädagogischen Gründen durch rauchlose Inhalatoren ersetzt ist) sind sehr intelligent und handeln folgerichtig, während man sich im Film mehr vordergründig eines Nazi ähnlichen Sujets bedient. Auch die Illusion, etwas durch Klamauk und Demonstrationen zu erreichen, ist im Film viel stärker strapaziert als im Buch. Das so weise wie der Autor darzustellen, hätte wohl zu sehr das Vertrauen in die schon so oft missbrauchten Mechanismen der Demokratie beschädigt.

Auch das Schicksal von Beppo Straßenkehrer musste man, dem Nazi Bild entsprechend, etwas anders darstellen und hat mich als Psychiatrieerfahrenen im Buch sehr berührt. Da wird er nämlich nicht von einer inzwischen korrumpierten Polizei in Gewahrsam genommen, sondern die viel subtilere Methode eines Sanatoriums angewendet. Dort hört man sich nämlich seine Geschichte in herzloser und gespielter Geduld wieder und wieder an und meint, ihn noch nicht wieder auf freien Fuß setzen zu können, weil die Wissenschaft mit seiner Diagnose noch nicht fertig sei.

Auch für die Allsicht-Brille und das schwere Rätsel, das der Hüter der Zeit, Meister Hora, Momo stellt, ist natürlich im Film kein Platz. Das Buch ist eben nicht einfach ein Märchen, es ist auch eine Krücke für eigene Gedanken. Da ist Raum, sich in die Lage der grauen Männer zu versetzen, die in einer Passage bis zu zehn Redner nacheinander zu Wort kommen lassen und einem jeweils auch nichts besseres einfällt, als der nächste Redner jeweils gerade einwirft. Genau wie man sich bei dem Meister Hora Rätsel, das doch sicher mit der Zeit zu tun habe, Momo unterlegen fühlen muss, weil man nicht darauf kommt, wer die drei Brüder sein könnten, meine Freundin sofort einwirft: Stunde, Minute und Sekunde, aber damit auch nicht ganz richtig liegt. So richtig beschämt ist man dann erst durch die Lösung, die so einfach ist, dass man nicht fassen kann, dass man nicht darauf kam.

Immerhin kann der Film bei manchem anderen auch zum gleichen Impuls führen, statt eines Nachmittags auf dieses Meisterwerk drei lange Abende zu verwenden, weshalb ich es morgen gleich wieder in die Bibliothek geben werde. Wie schön wäre es doch, auch bei anderen den Wunsch zu wecken, wie Momo die Sphärenmusik des Universums hören zu können.

CER 1.12.2025