Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Beinahe …

Beinahe …

Beinahe wäre ich auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen. Als ich einmal eine geschützte Werkstatt sah und das betreute Wohnen, kamen mir die Tränen. Der Supermarkt, sie kennen mich da schon von Kindesbeinen an, wollte mich nehmen. Sie würden mich schon hinbiegen, sagten sie. Mein Ziehvater und Mam wollten mich erst am Pfingstsamstag für immer aus meiner Einrichtung, wo ich ein berufsvorbereitendes Jahr absolvieren sollte, abholen, aber mir wurde dort gesagt, ich solle schon am Freitag gehen. Meine Vorliebe für Pfandflaschen versteht keiner, außer vielleicht mein Papa, und mein Ziehvater, als er mich dann doch schon am Freitag abholte, er die kniehohe Stromzufuhr zu meinem Handy abbaute, fand das alles meinerseits nicht so gut vorbereitet, dass die leeren Flaschen und Büchsen alle noch auf dem Tisch standen und nur halb gepackt war. Und es war auch nicht die gesündeste Raumluft, wie er auch gleich feststellte. Er hat mich alle Sachen allein runtertragen lassen. Wir hatten uns viel geschrieben die letzten Tage, und er hatte angemerkt, dass er mich wie einen Erwachsenen behandeln würde. Dann fuhren wir beim schönsten Wetter über Potsdam zurück. Auf der Fahrt fragte er mich, ob ich mich denn freue, nach Hause zurückzukommen. Ich antwortete nicht. Darin besteht ja auch immer eine gewisse Gefahr. Wie schnell konstruiert der Bedankte daraus eine Art von Überlegenheit. Er sagte zu mir, er fände es schöner, wenn ich während der Fahrt nicht mit dem Handy spiele, und ich ließ es sein. Das Handy ist mein ein und alles. Ich gehöre zu den besten Spielern der Welt und habe auch ein Mädchen kennengelernt darüber (was ein Geheimnis zwischen mir und meinem Ziehvater ist), die mich und meine Art mag, allerdings zwei oder drei Level unter mir hängengeblieben ist. Manchmal schicke ich meinem Ziehvater Nachrichten über Spiele, aber wie ich sie so toll finde, lehnt er sie ab und nimmt sie gar nicht zur Kenntnis.

Freitagnachmittag sind dann alle zu Hause. Mam ist krankgeschrieben und meine beiden Brüder kommen früher aus der Schule. Mein Ziehvater beruft einen Familienrat ein. Nicht alle sind begeistert davon. Meine Brüder sind keine Heimkinder, sie sind hier wirklich zu Hause, und obwohl sie jünger sind, sind sie mir überlegen. Mein Ziehvater sagt, sie sollen mich behandeln wie ihren ältesten Bruder, wie es sich gehört und dass wir jetzt ein paar Wochen ohne Mam auskommen müssen, denn sie würde wieder für längere Zeit in die Klinik gehen. Jeder hätte seine Pflichten. Das würden wir jede Woche mit einer Liste der guten Taten auswerten und der Beste bekäme 5 €. Nicht alle fanden das gut, aber in der Hausarbeit und Tierpflege bin ich unschlagbar. Ich kann Sachen so gut und gründlich bis zum Ende machen wie meine Mam. Ich bin zwar etwas langsam, aber was das Arbeiten anbelangt, bin ich nicht gehandicapt.

Am Abend spielen mein Ziehvater, Mam und ich Canasta. Ich ziehe viele Joker und arbeite auf einen Jokercanasta hin. Als dann einer fertigmacht, habe ich vierhundert Miese auf der Hand. Es sind Feiertage und ich bin in bester Stimmung. Ich soll zwar, wenn es wieder in die Woche geht, halb acht aufstehen, aber feiertags kann es schon mal halb zehn werden. Mam ist auch nicht früher raus. Am Sonnabend gehe ich mit meinem Ziehvater einkaufen. Eine lange Liste mit zweimal Fit drauf, wie ich in meinem Genauigkeitsfimmel feststelle. Wir kaufen dennoch nur eine Flasche, weil das natürlich ein Versehen war. Er will einen Kuchen backen und ich stehe direkt vor der Hefe. Zu Hause ermahnt er mich, dass ich meine Sachen einräumen soll. Ist schon erledigt, der Koffer schon wieder verstaut, kann ich da erwidern.

Dann entdecke ich, dass man mit dem Handy nicht nur endlos spielen kann, sondern auch ständig Musikhören. Ich behalte die Stöpsel den ganzen Tag drin. Wenn mich jemand darauf anspricht, ziehe ich den Stecker und bestrafe die anderen, dass sie alles mitanhören müssen. Ich bin der Stärkste der Familie, ich bin achtzehn. Keiner kann mir mehr so richtig was verbieten. Wo bleiben die Klebepunkte für die Liste der guten Taten, frage ich meinen Ziehvater immer wieder. Ich spreche sehr laut wegen der Stöpsel und er findet es gut, dass er endlich jedes Wort versteht von mir (er ist ein bisschen schwerhörig). Sie müssen auch alle laut reden mit mir und so kommen die Sachen mal endlich klar zur Sprache. Mam macht Mittag, ich wasche ab. Dann verziehen sich alle und mein Ziehvater beschäftigt sich mit dem Kuchen, den wir gleich am Nachmittag verkosten. Ich fahre mit dem Fahrrad rum, es ist herrlich, wieder zu Hause zu sein. Ich sage das wieder nicht, das wäre wieder gefährlich, aber es wird diesmal für immer sein.

Am Abend spielen wir wieder Canasta. Ich habe ein paar gute Spiele, freue mich über jeden gelungenen Trick. Mein Ziehvater und Mam meckern, dass ich auch dabei die Stöpsel im Ohr habe, aber ich lass sie einfach reden. Am Sonntag ist mein Ziehvater wieder früh raus und es kommt wieder so, dass ich mit Mam dann allein am Tisch sitze. Mein Ziehvater fährt endlich mit meinem mittleren Bruder zu sich nach Hause. Sie sollen endlich die Klebepunkte für die Liste der Pflichten holen und wie er sagt, auch etwas zum Arbeiten für die Zeit nach den Feiertagen. In der Zeit wasche ich wieder ab und staubsauge, ohne dass mir das jemand gesagt hätte. Die Vögel hatte ich schon versorgt, ich beobachte sie oft sehr intensiv und sehe genau, wie sich jeder von ihnen verhält. Ich klebe mir zwei rote Punkte in die Liste. Ich fange eine Motte mit einer Hand, einfach zugegriffen und erledigt, und erzähle ihm das.

Er will Puffer machen und alle außer Mam sind damit beschäftigt. Mein mittlerer Bruder ist wieder der Maschinist, schneidet die Kartoffeln erst versehentlich in Scheiben, aber nach einem kleinen Umbau sind sie im Nu zerrieben. Mein Ziehvater will Haferflocken ranmachen, aber es sind keine zu finden, und Mam ist auch dagegen, weil das der beste Puffermacher, ihr Vater, auch nicht macht. Puffer sind nicht gerade mein Ding, aber wir müssen auch sparen. Mein Ziehvater isst etwa fünf, aber drei bleiben trotzdem übrig.

Er sagt, wir wollen nicht den ganzen schönen Tag in der Bude hocken und ins Grüne fahren. Wir einigen uns auf ein Bad, in dem wir schon oft vor dessen Saisoneröffnung waren und auch schon Mams Geburtstag gefeiert hatten. Halb drei geht es los. Ich frage meinen Ziehvater, ob ich barfuß mitfahren kann, mir geht es so gut. Klar, sagt er. Mein mittlerer Bruder will nicht mit. Was er vorhat weiß kein Mensch, aber er setzt sich dann doch hinten auf den Sitz, nimmt aber keine Badehose mit. Der Kaffee war schnell gekocht, der Kuchen eingepackt und ab ging es ins Grüne. Die Badeanstalt ist ziemlich voll, aber wir finden noch ein schattiges Plätzchen, wo wir unsere Decken ausbreiten können. Es gibt ein bisschen Streit um den Platz auf den Decken. So schnell bin ich eben doch noch nicht der große Bruder. Der fluffige Kuchen ist Matsch, aber schmeckt – Aprikosenkuchen, meines Ziehvaters Lieblingswerk. Ich habe keine Lust etwas zu trinken. Mein jüngster Bruder gießt sich die Tasse voll Milch. Nach einer kurzen Ruhepause geht es dann ins Wasser. Mein mittlerer Bruder beobachtet uns vom Steg aus. Mein jüngster Bruder und ich sind die ersten an der Plattform, die etwa 100 m draußen ist. Wir steigen hoch und springen rein – immer wieder. Mein Ziehvater macht nur einmal einen Köpper und bleibt dann im Wasser. Als Mam endlich ankommt und sich auf den Rand der Plattform setzt, schwimmt er schon wieder zurück, denn das Wasser ist noch frisch. Wir drei sind allein auf der Plattform, Mam, mein kleinster Bruder und ich. Es macht Spaß. Ich springe noch mal rein – black – bin ich weg.
Beinahe – was hätte aus mir werden können?

C.R. 8.6.2022