Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Ich möchte Dir zurufen…

Ich möchte Dir zurufen …

lieber Bernhard, lass es sein mit dem Schreiben. Zwar kannst Du Dir einen guten Plot ausdenken, der bei der „Enkelin“ aber nur für ein Drittel ausreicht, dann ist die Luft raus. Und woher beziehst Du die Luft für wenigstens das erste Drittel?

Ein Student aus Westberlin möchte, wie er sagt, das ganze Deutschland sein eigen nennen und reist 1964, also drei Jahre nach dem Mauerbau, mehrfach in den Osten. Sieht, dass dort ein Deutschlandtreffen veranstaltet wird. Die bereits florierende Marktwirtschaft im Westen hat solche Werte nicht zu bieten, und ihm fällt eine junge Frau auf, wie er 20 Jahre jung, die irgendwie anders diskutiert und als er sie wiedertrifft am Alex, trägt er ihr ein Frühlingsgedicht vor. Der moralische Knoten, den Schlink schlingt, ist, dass diese junge Frau bereits schwanger ist, und wie auch anders, von einem Parteisekretär, was sie aber zu verbergen weiß. Seine Begeisterung für Birgit geht so weit, dass er sie unter Aufbietung beachtlicher finanzieller Mittel in den Westen holt. Es ist keine Flucht über Stacheldrahtzäune, sondern die Deluxe Variante mit falschen Papieren. Zwischendrein hat seine Birgit ein Kind entbunden und fortgegeben. Alles das bleibt unentdeckt und Birgit erweist sich als verschlossene und einigermaßen haltlose Gattin, die ihre Selbstfindung voranstellt. Letztlich findet sie dann zum Schreiben und das Dokument, das sie verfasst hat, ist das eigentliche Kunstwerk an dem Buch, aber zu dürftig für einen richtigen Roman und schon im ersten Drittel abgehakt. Birgit hatte sich auf die Suche nach ihrer weggegebenen Tochter machen wollen, aber eben auch wieder nicht, denn der Frevel lastete schwer auf ihr.

Kaspar, der seinen Namen vom Mohren unter den drei heiligen Königen hatte, ist auch so ein richtiger Mohr und sieht seine Aufgabe darin, seiner Frau Birgit in allem zu dienen, bis dass sie eben, gleich als romanhafte Wendung am Anfang in der Badewanne aus Trunkenheit ersäuft. Der Kaspar ist nun eigentlich der Held, mit dem man sich identifizieren sollte, aber er kann außer einigermaßen Geldverdienen mit seiner Buchhandlung und Gedichteaufsagen eigentlich nichts. Was er schon 1964 nicht konnte, nämlich selbst Inhalte generieren, lernt er auch in den Zweitausendern nicht.

Recht unwahrscheinlich findet er dann die verlorene Tochter seiner verstorbenen Frau, die eine bewegte Vergangenheit hat, jetzt in der rechten Szene ein völkisches Dasein führt und eben diese Enkelin geboren hatte, um die sich die restlichen zwei Drittel des Buches drehen. Der ach so blass bleibende Kaspar wirft dann mit Geld um sich und kauft sich so in die völkische Szene, dass er einige anstrengende Wochen mit seiner Stiefenkelin Sigrun verbringen kann. Diese entdeckt angeblich ihre Passion fürs Klavier, wird dann doch vom rechten Vater abgeschirmt, gerät auf die schiefe Bahn und Schlink glaubt uns einen positiven Schlenker zu bieten, als sie dann nach Australien geht, sich mit Kaspars Geld eine Weile über Wasser hält, um dann endlich eine Pianistin zu werden und an einem Konservatorium anzukommen. Über diesen Kitsch, den Schlink nur anzudeuten wagt, geht dann das Buch zuende. Im Grunde hat dieser Kaspar absolut nichts zu bieten, außer seinem Geld und einem Kanon an Bildung, mit dem er sich wappnet gegen die inhaltlich doch wohl überlegene rechte Szene, ohne die das Buch im Einerlei ersoffen wäre.

Indem er sich einen solchen billigen Sieg konstruiert, meint Schlink, etwas geschafft zu haben, aber dieser Allesversteher, der so einen Erfolg wie den „Vorleser“ aufzuweisen gehabt hat, prallt doch an den einfachen Wahrheiten ab, die ihre Unausweichlichkeit haben. Immerhin hat er ein weiteres Mal versucht, dem rationalen Kern der rechten Idee nahezukommen, die den einfachen Menschen auch Luft zu Atmen lässt und sich nicht beirren lässt durch die Klischees, die ihnen entgegengehalten werden. Im Grunde ist es ja der Gemeinschaftssinn, der in die Binsen gegangen ist. Diese eine Parallele zwischen Nazitum und Sozialismus ist sicher erlaubt, dass es in beiden so etwas wie Gemeinschaftssinn gab, und ist das nicht das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält?, wenn auch zum tragischen Leidwesen von Widerständlern, die in diesen Systemen eine Verantwortung bekommen, der sie manchmal nur unter Aufbietung aller Kräfte, ja ihres Lebens, gerecht werden können. Andererseits gab es in den gemeinschaftsorientierten Systemen immer eine Überreaktion gegen solche Widerständler, statt sie als Treibmittel für eine weitere erfolgreiche Gärung der Gesellschaft aufzufassen. Für diesen Umgang gibt es kein Patentrezept, aber die Aufgabe des Gemeinsinns ist sicher ein noch schlimmerer Fehler, denn er richtet nicht nur punktuell Schaden an, sondern amnesiert eine ganze Gesellschaft, macht das Volk zu einem Wahlvolk, wohl wissend, dass es die Wahl gar nicht hat.

Es fällt in dem Buch mehrfach der Begriff des sich Anbietens, was doch sehr in der Nähe der Prostitution steht. Der starke Mann, der schon hinter der Tür steht und der vielleicht zu Unrecht mehr als alles gefürchtet ist, bietet sich nicht an, sondern ist sich seiner Erwähltheit wohl bewusst. Von Gottes Gnaden kann er auch nicht mehr sein, das hatten wir auch schon zur Genüge. Das Gefühl der meisten Menschen erraten und darauf eingehen, das kann er vielleicht. Vielleicht gibt es ihn aber auch gar nicht – und wir werden untergehen.

Christian Rempel, im Waltersdorfe anno 2022, 24. Januar