Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Jensis Traum

Jensis Traum

Ich weiß nicht genau, was Jensis Träume sind, da es schon eine Weile her ist, dass ich etwas davon mitbekommen habe. Meistens war mein Vater der erste Adressat, und nur, weil ich ja immer um ihn war, habe ich die Entwürfe der Mehrgenerationenhäuser und die anderen Baupläne mitbekommen. Man soll ja seine Träume möglichst bis zum letzten Atemzug bewahren, weil sie das beste an einem sind und nicht mal unbedingt mitsterben, wenn es mal mit einem zu Ende geht. Mir hatte er eine Aufgabe zugedacht, die er vielleicht selbst würde besser erfüllen können, denn er ist mit der Feder gewandt, wie keiner der anderen meiner Geschwister, aber für die Skandale habe ich meistens gesorgt, und da es an diesen nicht gerade mangelt in unserer Familie, ergibt sich ein gewisses Spezialistentum bei mir.

Nun bin ich zwar der Meinung, dass ich von Fall zu Fall in dieser Richtung auch wirklich etwas zuwege gebracht habe, aber das Problem des Schweigens besteht ja weiter, und es ist, als hätte ich ein Gedicht zum besten gegeben und man könnte jetzt eine Stecknadel fallen hören, so still ist es. Es gibt da zwar einen regen Bundestag, der sich mählich voranarbeitet mit virtuellen Tagungen und drögen Protokollen, aber würde das jemanden interessieren, wenn ich nur eines davon auf meiner Homepage hätte?

Meine Erlebniswelt hat ja nun nach den heißen Sommertagen, wo ich auch ein bisschen neben mir stand, einen gemächlichen Verlauf genommen, wo ich meinen Geschwistern nur das eine oder andere kleine Werk liefern konnte, sämtlich vom hörbaren Fallen einer Stecknadel begleitet, eine gründliche Quittung für eine Reihe von Beiträgen, in denen noch Platz für Träume war, die ich mir unmöglich ausreden lassen konnte. Dennoch haften sie an der Realität und atmen ihren frischen Wind, der in die Dinge fahren könnte, wenn man es nur zuließe.

So wird jedem noch das Bild des Sonnenwagens bekannt sein, mit dem mein Vater nun wieder über den strahlenden Winterhimmel täglich fährt, ohne übrigens im Schnee die geringste Spur zu hinterlassen. Zu seinen Lebzeiten hatte er dieses wichtige Instrument seiner beständigen Gegenwart unter meine Obhut gestellt, es war die letzte Unterschrift, die er geleistet hat. Ich investierte in sein Gefährt, aus Gründen, die den meisten noch gegenwärtig sein dürften, einen runden Tausender und sorgte dafür, dass er immer vollgetankt ist.

Die Jagd nach den Papieren und dem Erstschlüssel dauert nun bis heute an, und die damit verbundenen Auftritte meiner Geschwister, die auch schon in die Annalen eingegangen sind, wurden als reines Kunstprodukt geehrt. Letztlich zerschellten die Übergriffe am glücklichen Zufall und am Mut meiner Verlobten.

Nun will ich dem geneigten Leser, da wir noch einmal in das Reich der wundersamen Begebenheiten einsteigen wollen, die Begegnung mit Herrn Diepensee schildern, die die zweite war, ich zunächst an den Warteschleifen des renommierten Mercedes Autohauses gescheitert war und nun vor einem jungen, beanzugten Mitarbeiter stand, der ob meiner Geschichte nur Bahnhof verstand, bis sich Herr Diepensee in das Gespräch mischte, den ich viel kleiner in Erinnerung hatte, und wohl auch ungesünder im Aussehen. Was nahm das Wunder, denn unsere erste Begegnung hatte am 27. Juli stattgefunden und lag nun so lange zurück, wie eine Mantelpavianmutter braucht, um ein Junges zur Welt zu bringen. Wie sollte sich da nicht auch der Herr Diepensee zu seinem Vorteil verändert haben können.

Ich sah nun auch nicht gerade aus, wie der Dr. rer. nat. Rempel in meiner Polenchapka und der FP2 Maske vor dem Gesicht. Es reichte nicht, dass ich Maske und Hut kurz lüftete, ich musste schon mal den Ausweis mobilisieren. Mein Auftritt von damals muss irgendwie eindrucksvoll gewesen sein, er konnte sich noch an alle Einzelheiten des Vorgangs erinnern, wogegen mir nicht mal mehr klar war, weshalb ich das Mercedeshaus am 27.7. aufgesucht hatte, wusste nur, dass Herr Diepensee lange verschwunden war und ich den Eindruck hatte, dass, wenn ich noch länger warten würde, die Außentüren vielleicht nicht mehr aufgehen würden. So hatte ich an diesem denkwürdigen Tag den Erstschlüssel auf dem Tresen hinterlassen und war meiner Wege gegangen.

„Sie haben ja die Vollmacht Ihres Vaters“, riss mich Herr Diepensee aus meinen Gedanken, denen ich dann noch lange nachhängen konnte, weil er wieder durch die imposante Halle verschwand und mich lange allein ließ. Diesmal hielt ich allerdings die gut zwanzig Minuten aus und betete im Stillen, dass alles gut werden würde. Endlich erschien er wieder, ohne jegliche Akte, sodass man sich fragen konnte, was er denn so lange gesucht hatte. Es folgte erst mal ein kleiner Vortrag. „Sie haben ja im Juni die Radmuttersicherungen gekauft und bezahlt und auch den dritten Schlüssel, der ja, obwohl die Frist verstrichen ist, immer noch bereitliegt.“ Er legte vor mich auf den Tresen den Erstschlüssel, aber der wurde zunächst auch Gegenstand einer Besprechung, so dass ich ihn liegenließ, wo er war. „Zwei Tage nach Ihnen kam ja Ihre Schwester zu uns und hat sich nach der Lage der Dinge erkundigt. Sie hat den Weg nicht gescheut, und auch nicht die bei uns üblichen Wartezeiten. Da Sie aber den Schlüssel abgegeben haben und Sie ja auch die Vollmacht Ihres Vaters besitzen und zudem ja jetzt einer seiner Erben sind, steht Ihnen der Schlüssel natürlich zu. … Und, was den dritten Schlüssel betrifft, so könnte man wohl nur im Ausnahmefall einen Servicemitarbeiter nach Zeuthen schicken und die Programmierung vor Ort vornehmen lassen.“

Da wurde mir mit einem Schlage klar, dass der dritte Schlüssel der Grund gewesen war, weswegen ich im Juli vorigen Jahres das Autohaus aufgesucht hatte. Damals führte noch kein Weg herein. Lassen Sie uns noch einmal kurz im Reich der Phantasie sich umsehen:

„Ich bin ja nicht mit dem Sonnenwagen hier, sondern mit einem Toyota, dessen Motto doch lautet: Nichts ist unmöglich!“ „Bedaure, Ihr Übertritt in das Reich der Phantasie beginnt mit einem Fauxpas, denn Sie kamen mit einem Mazda, dessen Motto ist: Platz da, ich …“ „Ich weiß, doch vielleicht ist ja Mercedes auch nichts unmöglich“, unterbrach ich ihn da. Was hätten Sie an meiner Stelle getan, lieber, geneigter Leser?

Lassen wir doch unseren geliebten und verehrten Vater noch täglich um sechs im Mercedes Autohaus vorstellig werden, dann nach angemessener Wartezeit von ca. 20 Minuten seinen eigenen Schlüssel entgegennehmen und seine Sonnenbahn ziehen. Sein Andenken wird jedenfalls gewahrt, auch wenn der Bundestag das für eine der Gewissenfragen hält, die nur jedem individuell obliegt und eben nicht einer zeitweilig entzweiten Gemeinschaft von Geschwistern. Alles, auch das, könnte ein Lernprozess sein.

C.R. 13.2.2021