Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Rautag III

Rautag III

„Der Morgen grüßt, es ruft die Pflicht
so lang wird sie nicht rufen müssen
denn lange schlafen tun sie nicht
sind doch immer dienstbeflissen“

Die Geschwister sind alle was geworden, eine Immobilienmaklerin, ein Mathematikprofessor, ein erfolgreicher und scheinbar kaltblütiger Banker, ein Baulöwe, ein Pfarrer und was sie nicht alle waren.

Nur der jüngste war das Sorgenkind seines Vaters. Der Vater hatte sich schon vor Jahren von der Mutter dieser zahlreichen Kinder getrennt, weil sie im Grunde eine Trinkerin war, auch wenn man es ihr kaum anmerkte, in der Nähe der Familie aber schlecht zu verbergen gewesen war. Alle Kinder waren beim Vater verblieben, der sich alsbald eine andere Frau gesucht hatte, hatten es dem Anschein nach gut bei ihm. Nur der jüngste eben konnte die Sehnsucht nach seiner Mutter nicht bemeistern und schrieb ihr eine Postkarte, die er aber nicht einstecken konnte, weil er an den Briefkastenschlitz nicht heranreichte. Da bat er einen seiner größeren Brüder darum, der aber die Karte zunächst las und aus seinem Herzen keine Mördergrube machte, sondern den Inhalt seinem Vater überbrachte, der darin ein Zeichen der Illoyalität sah, sich aber nicht weiter darum scherte. Da waren sie noch Kinder gewesen, jetzt hatten alle schon ihre eigenen Häuser und Ehegesponse.

Das Maß war für den Vater erst dann voll, als der jüngste angab, Dachdecker werden zu wollen, also weder Banker, Rechtsanwalt noch Mathematikprofessor. Diese Ansicht wurde auch von den Geschwistern geteilt, die keinen Prekären in ihrem Stammbaum haben wollten. Daher lockerte sich nicht nur das Verhältnis des jüngsten zum Vater, sondern auch zu seinen Geschwistern.

So vergingen die Jahre und den Geschwistern wurde es fast langweilig in ihrem erfolgreichen und beschaulichen Leben, und bald trieb es nur noch den alten Vater um, dass er von seinem jüngsten so gar nichts mehr höre. Dieser hatte inzwischen nicht nur die Lehre beendet, sondern war sogar Dachdeckermeister geworden. Natürlich reichte das noch lange nicht an die Erfolge der Geschwister heran, aber wer es hören wollte, dem schwärmte der jüngste gern vor, wie schön es ist, in den zwar gefährlichen aber freien luftigen Höhen auf die Straßen und anderen Dächer der Stadt zu schauen.

Schließlich hatte sich doch noch ein, wenn auch einseitiger Kontakt zwischen dem Vater und dem jüngsten Sohn ergeben, denn der jüngste schrieb zuweilen Briefe an den Vater, über die sich dieser insgeheim freute, die er aber nie beantwortete. Einmal sagte er sogar zu seiner einzigen Tochter: „Schaff mir den Josef her, ich will ihm nun endlich verzeihen.“ Wie aber sollte das die Tochter können? Sie hatten, dem Vorbild des Vaters folgend, jeglichen Kontakt abgebrochen, und sich von luftigen Höhen und Fastabstürzen berichten zu lassen, danach hatte keinem der Geschwister der Sinn gestanden. Irgendwie ging diese Situation dann auch einfach vorüber.

Natürlich wusste auch der jüngste nicht mehr viel von seinen Geschwistern und ebensowenig vom schweigenden Vater. Da nun Weihnachten heran war, war es auch Zeit, wieder mal Bericht zu geben von sich selbst und dem Vater gute Wünsche zu senden. Inzwischen war die Höhe des Briefkastenschlitzes für ihn ja keine Hürde mehr, er hätte auch in 40 m Höhe sein können.

Dieser Brief aber kam in einem Totenhaus an, denn der Vater war vor kurzem eines schnellen Todes gestorben. Die Geschwister hatten sich versammelt und wurden Zeugen seiner letzten Momente, die der Vater so, wie er es am besten konnte, schweigend verstreichen ließ. Alle glaubten sich dem Toten am nächsten, wenn sie auch schwiegen und brachten die Tage bis zur Beisetzung im Vaterhaus zu. An einem dieser Tage kam auch der Brief, den sie nun berechtigt waren, selbst allen anderen vorzulesen. Was war da die Rede von einer schwierigen Kirchendeckung mit Schwalbenschwänzen, mit gefundenen Schwalbennestern und roh behauenen Balken. Nur ganz zum Schluss dann ein paar hingeworfene Wünsche für die Zukunft und das Wohlbefinden des Vaters.

„Das also ist es, was er für mitteilenswert hält, lauter Banalitäten“, sagten sie da und fühlten sich bestärkt in der Ungeheuerlichkeit, den jüngsten nicht in Kenntnis zu setzen, dass sein Vater gestorben war.

Zu guter Letzt zogen sie alle mit dem Sarg durch die Straßen der Stadt, den Vater zur letzten Ruhe zu betten. Der Ahnunglose auf seinem halbfertigen Kirchendach gewahrte den Trauerzug und sah als erste hinter dem Sarg die schwarz gekleidete einzige Schwester, dahinter die vollzähligen Brüder, und um ein Haar wäre dem jüngsten der Kuhfuß aus der Hand gefallen, den er gerade ansetzen wollte, einen rostigen, geschmiedeten Nagel herauszuziehen. Das konnte nur der Trauerzug für seinen Vater sein!

Die einen sagen, die zahlreiche Familie ist daran zerbrochen, in einen verschwindend kleinen Teil, den jüngsten, und die Majorität, und dass beide Teile nie wieder ein Wort miteinander gesprochen hätten.

Die anderen sagen, dass die Schwester, die die treibende Kraft der Aktion gewesen war, sehr sehr lange in Schwarz ging, erst um den Vater und dann um den verlorenen kleinen Bruder.

C.R. 30.12.2020