Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Raunächte

Raunächte

Silke war es, die mich auf die Bedeutung der gegenwärtigen Nächte hingewiesen hat, und es gab gleich in der Heiligen Nacht den Knaller. Nicht jeder träumt ja, und oft kann man sich dann auch gar nicht mehr an die einigermaßen absurden Eingebungen erinnern. Bei mir sind es manchmal halb durchwachte Nächte, in denen man von Gedanken umgetrieben wird, die einen auch des Nachts nicht loslassen wollen, aber das sind nicht die entspannten und sinngeladenen Träume, das sind wohl eher Obsessionen. Nur ganz selten gibt es einen Traum, der einem nächtliche Erholung bringt und dann trotzdem so reich deutbar ist, dass es einem Wahrsager alle Ehre machen würde.

Silke und ich hatten ja den Weihnachtsfrieden eingeläutet, indem wir noch mal der guten Seiten unserer Geschwister gedachten, die doch so leicht verschütt gehen können, wenn sich die Ansammlung von immerhin sechs hinreichend Kindgebliebenen in Konferenzen und Protokollen ergehen. Aber wie selbst die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Waffen zu Weihnachten schweigen ließ, um nach gehabtem Absingen von Stiller Nacht, Heiliger Nacht, dann nach den Feiertagen davon unbeschadet wieder dreinzuschlagen, so kann man Weihnachten mal so an sich heranlassen, dass es Spuren über die Feiertage hinaus hinterlässt.

Wir hatten also ihrer gedacht und dämmerten nach diesem selbstgemachten Eindruck und den üblichen Feierlichkeiten in die erste Raunacht. Uns war klar, dass wir, da wir es für uns behalten hatten, bei schlicht denkenden Gemütern die Möglichkeit einer Zahn um Zahn Ideologie mit einem gewichtigen Argument versehen hatte. Wenn sie uns nichts wünschen, machen wir das erst recht nicht. Wir hatten aber etwas gewünscht, was wiederum in all dem Schweigen auch die Interpretation erlaubt, dass sie es uns gleichtaten und ebenfalls der Heimlichkeit in der Weihnachtszeit ihren Tribut zollten. Nichts ist schwerer zu interpretieren als Schweigen, und trotzdem muss man es immer wieder versuchen, denn wach ist noch die Erinnerung an sogar rauschende Familientreffen zu Weihnachten, zu denen immer unser Vater jahrelang eingeladen hat, selbst wenn er, wie voriges Jahr, gar nicht daran teilnahm.

Dieser Rautraum handelte nun nicht gleich von allen fünf Geschwistern, sondern nur von einer, die hier sicher nicht genannt sein möchte. Sie war, nicht ganz der Wahrheit entsprechend, aber auch aus einem tieferen Sinn richtig, alleinlebend, und sogar Mieterin in meinem Haus, immer ein bisschen auf Distanz, einerseits wegen ihrer durchaus selbstbestimmten Persönlichkeit und andererseits wohl auch aus einem gewissen Unbehagen, die Vergangenheit betreffend, heraus. Dennoch waren wir an einem Tag uns nahe, und mir fiel das Wort ein, das wir früher in den besten Momenten verwandt haben: Knullibulli – und flüsterte es.

Christian Rempel, Zeuthen, 26.12.2020