Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne Nummer 35/2019 „Auferlegt“

Auferlegt

Nachdem wir uns in die Lande Phantásiens haben vom verstorbenen Michael Ende entführen lassen und wir Theodor Fontane unsere Referenz erwiesen haben, haben wir uns jetzt ein bedrückendes Werk von Fjodor Dostojewski «Totenhaus» vorgenommen, in dem eine triste Männerwelt beschrieben wird, mit der man lieber nichts zu tun haben möchte. Wir haben uns diese Lektüre auferlegt, weil es ja immer gilt, einem Autor, der sich die Mühe gemacht hat, etwas zu Papier zu bringen, auch den Gefallen des Lesens zu bereiten.

Dostojewski war ja selbst mal ein Verbannter und an seiner Beschreibung eines sog. Ostroggs, also einem Zwangsarbeitslagers, erstaunt schon, welche Freiheiten die Gefangenen da noch hatten und wie sie mit einem legendär guten Brot versorgt wurden. Auch wenn man mehrfacher Mörder war, drohte einem noch nicht die Todesstrafe, sondern man konnte seine Zeit noch relativ kommod, auch mit Kontakten mit der Bevölkerung verbringen. Selbst die geschlechtlichen Freuden waren nicht ganz ausgeblendet, und wenn man nur über ein paar Kopeken verfügte, konnte man sich auch diese noch erkaufen. Man stelle sich vor, dass die Gefangenen sogar ein Theaterstück jährlich auf die Beine stellten. Es entstanden Lieder, die von Gefangenen gedichtet worden waren und auch der Branntweingenuss war nicht ganz unmöglich. Das ist dann doch eine annehmbare Welt, in der die Gefangenen, wenn auch mit Ketten Versehenen, da ihre Zeit herumbrachten.

Man kann sich da überlegen, dass es doch noch eine volkstümliche Kultur gab, die das Überleben möglich machte. Man kann sich schwer vorstellen, welche Unterschiede da zu heute bestehen. Jetzt bin ich gerade beim Weihnachtsfest der Gefangenen, und es erstaunt auch, wie die Bevölkerung diese nicht einfach ihrem Schicksal überließ, sondern selbst die Ärmsten noch ein Gebäck oder sonst etwas spendeten, große Mengen auch von den Betuchteren kamen, sodass man sagen konnte, dass die Sträflinge keinem der Anwohner egal waren.

Das Verbrechen galt in russischen Landen eben nicht zuerst als Schuld, die man einer gerechten Strafe zuführte, die alle für selbstverständlich halten und sie ihnen daher egal ist, sondern sowohl das Verbrechen als auch dessen Sühne wurden als allgemeines Unglück angesehen. Demzufolge sind eben die Bestraften auch die Unglücklichen, denen da eben etwas im Leben unterlaufen ist. Es ist auch nicht zu unterschätzen, welche Klammer da die Religion bildete, wenn nicht die weltlichen Gewalten, sondern eben ein Heiland als oberste Instanz angesehen wird, mit dem man ganz persönlich seinen Frieden machen kann.

Dieses Auferlegte, das eigentlich eine Zumutung ist, macht die heutigen Verluste so recht deutlich. Wie sehr man einer Heimat, einer Nation bedarf, wie wichtig Riten sind, selbst noch im Zweiten Weltkrieg, als einer der gefangenen deutschen Angreifer beim Kartoffelschälen aufgefordert wird ununterbrochen Lieder zu singen, wie Hermann Kant in einem Roman beschrieben hat. Man stelle sich einen heutigen Jugendlichen in dieser Situation ohne ein Handy vor, von dem er nicht mal die genaue Funktion ahnt. Das ist doch etwas, worauf man in seinem Leben ein bisschen vorbereitet sein sollte.

Christian Rempel in Zeuthen, den 24.11.2019