Der Gedichtladen

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Kolumne KW 39 2016 „Schildbürger“

Schildbürger

 

Ruth Kraft (1920-2015) muss es wissen, denn die vor gut einem Jahr verstorbene Zeuthener Schriftstellerin ist in Schildau in der Nähe von Torgau geboren worden. Sie hat 40 Jahre in Zeuthen gelebt, war hoch dekoriert und Mitglied des Vorstandes des DDR Schriftstellerverbandes. Da stand sie als Kind mit den Schildbürgern praktisch auf Du und Du, die ja in Schilda beheimatet gewesen sein sollen im Land Misnopotamia, das heute nicht mehr aufzufinden ist.

Jeder kennt die Narretei, wie die Schildbürger das Licht in ihr wegen eines Baufehlers finsteres Rathaus tragen wollten. Sie benutzten nicht nur Säcke und Töpfe, sondern ein besonders Pfiffiger sogar eine Mausefalle, um das Licht zu fangen und ins frischgebackene Rathaus zu tragen.

Vielleicht ist einem auch noch gegenwärtig, dass sie auf einem Felde Salz säten, um nach der Reife der „Salzpflanzen“ umso mehr davon zu haben, sodass sich jeder Schildische schon als mächtiger Salzherr fühlte.

Das Ende der Narretei führte dann ein „Maushund“ herbei, der eigentlich eine gewöhnliche Katze war, die aber keinem in Schilda mehr bekannt war und von der sie meinten, dass sie nur im Anfang Mäuse fressen würde, dann aber zu Vieh und gar der Menschenfresserei übergehen würde. Als die Schildbürger diesen Maushund töten wollten, sich aber keiner mehr traute Hand anzulegen, wollten sie ihre einzige Katze erst im Getreidespeicher, und als die Katze floh, in den Zufluchtshäusern ausräuchern, womit sie sich letztlich um alle ihre Häuser brachten, bis auf das, wo die Katze dann zum Schluss saß, wo sich aber keiner mehr hineintraute.

Weniger gegenwärtig wird einem noch sein, dass die Schildbürger, die nebenbei auch eine schöne Persiflage auf die Demokratie sind, denn sie nehmen immer die kollektive Weisheit zu Hilfe, nicht immer närrisch gewesen sind, sondern einst weise und gefragte Ratgeber an allen Höfen waren und sich der Sage nach einer griechischen Abstammung rühmen durften. Die kurze Wahrheit ist, dass wenn man die Narretei beschließt, um sich vor der Abordnung in fremde Lande zu schützen, man selbst närrisch werden kann, man also den Narren nicht spielen sollte.

Die lange Wahrheit aber, dass selbst eine beachtliche Ansammlung von Narren (und wer kann von sich sagen, dass er keiner ist), die beständig und ausführlich in allen Dingen Rat halten, also rechte Demokraten sind, dennoch nicht klüger werden als jeder einzelne von ihnen es schon gewesen, als man des Verstandes noch nicht entsagt hatte. Das Buch, das 1598 erstmals erschien, ist 1953 von Ruth Kraft neu gefasst worden und ist so gelungen, dass man es noch heute mit Vergnügen lesen kann und es am liebsten abschreiben würde, was ich auch tat.

Christian Rempel in Zeuthen, den 1.10.2016