Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

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Fast in einem Zug las ich das Buch von Roman Preist, einem schizophrenen Biophysiker, das den Titel trägt „Mein Leben in zwei Welten“, zunächst bei dtv erschienen und jetzt noch einmal vom Paranus Verlag herausgebracht. Eine Ironie des Schicksals ist es wohl, dass er in seinen ersten Jahren als Wissenschaftler die Ausschüttung von Stresshormonen an Nebennierenzellen untersuchte und ihm dabei im Labor eines deutschen Nobelpreisträgers eine beachtliche Ent­deckung gelang, nämlich die Reaktion der Nebennieren, die es produzieren, an einzelnen Zellen nachweisen zu können. Wie er dieses Leben beschreibt, das eigentlich nur aus Arbeiten besteht, hat es mich sehr an meine eigene Zeit als Wissenschaftler erinnert. Jedenfalls hatte er nach einiger Zeit der Untersuchungen an Stresshormonen selbst Stress genug.
Der Autor, der solange alles glatt läuft, in der Ich-Form schreibt und dann bei seinem ersten Durchdreher zur Er-Form übergeht, manchmal sogar in die Sie-Form wechselt, stammt aus ländlichen Verhältnissen, wo er als Nachzügler einer mehrköpfigen Familie als Sohn eines promovierten Agronoms aufwächst, die Mutter allerdings den Ton angibt. Obwohl der Vater ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießt, lebt er zu Hause allein, in die obere Etage zurückge­zogen und ergibt sich dort dem Rauchen und dem Alkoholgenuss und die Mutter belegt allein das Ehebett und führt den Haushalt. Natürlich ist die Mutter sehr stolz auf ihren Sohn, der die wis­sen­schaftliche Laufbahn eingeschlagen hat und nach dem Erfolgsrezept verfahren ist, dass er sich an das Labor eines Wissenschaftlers begeben hat, der gerade Nobelpreisträger geworden ist und seine Abteilung so im Rampenlicht steht, dass jeder, der dort mitarbeiten darf, auch ein biss­chen von dem Ruhm des Nobelpreisträgers abbekommt.
Vor seinem Studium versuchte sich Roman bei der Bundeswehr als Mann zu beweisen, indem er Fallschirmspringer wurde, was einen ziemlichen Drill mit sich brachte und er auch unwahr­schein­liche Ängste ausstand, als es dann ans Springen ging.
Jeder Schizophrene hat ein mehr oder weniger interessantes Problem und seins bestand wohl darin, dass er sich als Frau fühlte. Man kann sich da schwer hineindenken, wenn man als klein­wüchsiger Mann mit femininen Zügen streckenweise nichts mehr fühlt zwischen den Beinen und sich der Penis scheinbar als Vagina nach innen stülpt und man das Gefühl hat, dass man einen Busen hätte, dass man hin und wieder sich mit Frauenkleidern drapiert, aber er steigert sich in diese als Schuld empfundene Vorstellung, dass sich daraus ein Verfolgungswahn ergibt, eine freudsche Kastrationsangst.
Als er sich auf einer Studienreise in Madrid befindet, kommt die Krankheit zum Ausbruch. Vor seiner Abreise hatte er noch eine Freundin kennengelernt (Lucille), die wohl so schön und begehrenswert war, dass er sein weiteres Leben gern mit ihr verbracht hätte. Sie hatte ihm Hermann Hesses Buch „Narziss und Goldmund“ mitgegeben und dazu gesagt, dass sie Goldmund sei. Dieser führt in dem Buch aber ein sinnenfrohes ausschweifendes Leben und er schloss nun wagemutig, dass sie es mit der Treue nicht genau nähme. Zwar war es eigentlich um seine Treue nicht gut bestellt, denn er tröstete sich mit Freudenmädchen, aber der Auslöser war eben die Vorstellung ihrer Untreue, was ich nun wieder gut nachvollziehen kann. Ein kleines déjà vu war wieder, dass ich selbst diesen Roman unlängst gelesen hatte und ihn für eine Ausgeburt der sexuellen Phantasien Hesses hielt.
Die durchgängige Motivation der schizophrenen Störung ist eine Selbstüberschätzung, denn man nimmt in seinen Verfolgungswahnvorstellungen an, das sich die ganze Umwelt gegen einen verschworen hat und sich alles um einen selbst dreht. Er selbst hält die Untreue für sich für ein Kavaliersdelikt, während er dasselbe seiner Freundin nicht zugesteht. Wie kann man einen derar­tigen verschrobenen Egoismus motivieren? Da hat er eine Rolle parat, die bei seinen wissen­schaft­­li­chen Bemerkungen als gesellschaftliche Funktion allerdings in urgesellschaftlicher Form definierbar ist, dass sich der Wahnsinnige als Detektor für Gefahren eignet, dass er einen ge­schärften „Warnsinn“ hätte, weil seine Filter immer weiter geöffnet sind als bei normalen Men­schen und er schneller assoziieren kann. Durch den Austausch eines einzigen Buchstaben kann man also den als Last empfundenen Wahnsinn zum nützlichen Warnsinn machen.
Das Buch ist flüssig und interessant geschrieben. Wahrscheinlich ist es ein Privileg der Er­kank­ten, die auch schreiben können, dass sie diese Vorgänge einigermaßen fassbar machen kön­nen, und er prägt auch einen interessanten Begriff, nämlich den der semantischen Bahnung, die bei den mir bekannten Dichtern etwas passiver als Bedeutungshöfe zum Schlagwort geworden sind. Aufgrund überragender Assoziationsgabe kann der Verrückte zum Beispiel weiß mit Absturz in Verbindung bringen, was jedem als unmotiviert erscheinen wird, aber die Kette könnte zum Beispiel gewesen sein: weiß, Schnee, Mount Everest, Reinhold Messner, Bruder, Absturz. Es kann eben als eine gewisse Genialität gelten, aber in der Regel wird die Umwelt auf das Ergebnis solcher Ketten mit Unverständnis reagieren.
Ein anderes Beispiel eines solchen Wortspiels, das wiederum auch von mir verwendet wurde und ich sogar mit einer Nähmaschine in der Ergotherapie auf einen Stoffstreifen genäht habe, ist Veni, Vidi, Vinci (kam, sah und siegte), was ihn über den Wein auf Leonardo da Vinci gebracht hat, indem er die variierte: Veni, Vino, Vinci. Da kann man sich dann schon mal Gedanken ma­chen, warum das Universalgenie da Vinci immer in Spiegelschrift geschrieben hat. Dieses Bei-spiel mag sogar ein bisschen primitiv anmuten, aber dem Gestörten erschließen sich ganze Wel-ten voll tiefsinnigster Bedeutung und er baut ganze Systeme, die sich nach Abklingen des Schu-bes und Sichtung dieser „Werke“ als ausgesprochen lächerlich und banal herausstellen.
Der Autor führt uns ein Leben mit der Krankheit und letztlich ein privates Glück mit Frau, Nachwuchs, Haus und Garten vor, aber den Ursprung würde ich nach wie vor daran festmachen, dass es keine gesellschaftliche Aufgabe, kein echtes Ziel mehr, weder für die Normalen noch die übersensibilisierten Warner mehr gibt. Die Quelle des Wahnsinns ist überwiegend eine gesell­schaftliche und wenn man bedenkt, zu welchem rapiden Anstieg psychischer Störungen die Wen-de geführt hat, so war das nicht nur das Wegbrechen des Sozialismus, sondern für die empfind-lichsten Gemüter die Ankunft in einer sinnlosen Gesellschaft. Einige wurden für Millionen ande-rer verrückt und einige haben auch wirklich sogar ihrem Leben ein Ende gesetzt.

C.R. 21.8.2012
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