Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW39 „Vorfreude“

„Vorfreude“

 

Es sind offenbar nicht wenige Kinder, die in langen Winternächten gezeugt wurden, und so nimmt es nicht wunder, dass sich dann im September die Geburtstage häufen. Auch im Vorstand der Undichter haben 50% im September Geburtstag, was man als Schriftführer nicht übersehen kann, denn diese Daten sind ja in einem Verein in amtliche Papiere einzutragen.


Auch mein Freund in Westberlin hatte gestern Geburtstag und die ganze Gesellschaft altert fleißig mit ihm mit. Beinahe hätte ich die Columne wieder mit der Wendung: „Gestern begeg­nete mir auf einem Fest …“ beginnen können, aber er ist es ja selbst, der mich immer wieder mit unvorher­gesehenen Ansichten und einem sicheren ästhetischen Urteil über­rascht.

So hatten wir eine Diskussion über ein recht als Machwerk misslungenes Gedicht, das einer dieser Undichter als ein rechtes Spannungsfeld in den Ring warf, als es allen gerade so richtig und rundum gutging. Es handelt davon, wie erst ein Hund gefesselt und verbrannt wird, dann stellt sich der Autor vor, dass man den Mädchen auch mal an die Brüste fassen könnte, und weil eins davon offenbar mit dem armen Hund fühlt, wird es ebenso gefesselt und verbrannt. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fiel ihm dann noch ein, wieder bei dem Hund zu beginnen, dann wieder die Grabscherei und dann das nächste Mädchen verbrannt und immer so weiter. Das alles soll ein anonymes Unrecht sein, dem der Verfasser dieser Unsäglichkeit ein Gesicht geben möchte, beklagt sich nun noch, dass es außer bei seinen Fans recht schlecht ankommt und dass man sich eben hüten müsse, dem Unrecht ein Gesicht zu verleihen. Ja, warum muss man sich nur hüten?

Weil es offenbar Phantasien ent­springt, denen man nicht über den Weg trauen kann. Weil er selbst in Verlegenheit ist, sein Kunstwerk zu erklären, was man übrigens gar nicht können m u s s . Denn wisse, das Kunstwerk kann größer sein als der Schöpfer desselben.

Die vorwitzigsten Interpretationen gehen sogar so weit, dass es sich um eine völlig neue Kunstform handelt, wie der Sturm und Drang die steife Aufklärung ablöste und die vergan­genheitsse­lige Romantik die Klassik. Wer nicht weiß, in welchem Zeitalter der Kunst wir uns gerade befinden, dem sei gesagt, dass wir immer noch in der „Post­mo­derne“ stecken, wo Kunst manchmal nur noch Aktion ist und Gedichte in möglichst „freien“, sprich weniger kunstvollen, Versen daher­kom­men.

Wollten wir die Jetztzeit mit einem Wort charakterisieren, so könnte sie die Zeit der entfesselten Gewalt sein. Aber die Kunst kann ja prägend wirken, ihr Zeitalter immer noch etwas übertreffen, und wenn das wirklich die neue Kunstform, das neue Kunstzeitalter ist, dann verdiente sie den Namen der „Perfidie“.

Christian Rempel im Waltersdorfe, den 26.9.2015