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Der Chemiker scheint der Wahrheit näher

Der Chemiker scheint der Wahrheit näher

Mechanik

Alle so genannten Modelle, die wir in der Physik zu Rate ziehen, um etwas richtig zu verstehen, sind mechanischer Natur. Der Prototyp des Mechanismus ist ein Uhrwerk, das wir heute kaum noch benutzen, und vielleicht liegt es daran, dass wir mehr und mehr beginnen, uns von mechanischen Vorstellungen zu lösen.

In einem Uhrwerk greifen die Zahnräder ineinander, bewegen sich gesetzmäßig, und jede Ungenauigkeit der Bewegung lässt sich auf irgendwelche klaren Dinge zurückführen. So ist das Ineinandergreifen der Zahnräder mit Reibung verbunden, die mechanische Energie in Wärme umwandelt, was man als den Grund ansehen kann, dass das Pendel nicht unendlich lange schwingt und man die Uhr aufziehen muss. Auch die Reibung des Pendels an der Luft lässt sich auf diesem Wege einbeziehen. Wenn zwischen den Zahnrädern ein Spiel oder eine zeitabhängige Reibung auftritt, dann hat das seinen Grund in mechanischen Ungenauigkeiten der Ausführung der Zahnräder, und letztlich hat eine immer genauere Fertigung der Elemente zu einer immer höheren Ganggenauigkeit geführt, bis man zu völlig anderen Prinzipien übergegangen ist.

Atome

Auch wenn man die Welt sich aus Atomen aufgebaut denkt, ändert das nicht viel an diesen Vorstellungen, denn sie sind derart klein und ihre Bewegungen sind derart statistisch, dass man dennoch ganz gut bei dem Bild der mechanischen Bewegung bleiben kann.

Chemiker und Biologe

Soweit erscheint ziemlich klar, was mechanisch ist, aber das Bild geht in der Wissenschaft noch weiter. Der Chemiker stellt sich die Atome als kleine bunte Bälle vor, jede Atomsorte mit einer anderen Farbe, und sofern der Durchmesser bekannt ist, auch mit unterschiedlichen Größen. Der Biologe schließlich, der mit dem organischen Leben zu tun hat, stellt sich alles von physikalischen und chemischen Gesetzen bestimmt vor und symbolisiert das größte Geheimnis, die Vererbung, mit einer kleinen Maschine, die aus in der Zellflüssigkeit schwimmenden Ketten besteht, die dann wie ein Schlüssel in ein Schlüsselloch passend einen bestimmten Code kopieren und übertragen. Nur letzterer ist mit unangenehmen Fragen konfrontiert: „Worin besteht denn nun das Leben, das uns so ins Auge springt, das sich über Millionen Jahre entwickeln konnte und uns heute all die Vielfalt und Schönheit darbietet, an der wir uns auf unserem Planeten freuen können?“

Ratlos?

Der Biologe ist ratlos, schielt auf den Physiker, der aber den Kopf schüttelt und sagt: „Wir beschäftigen uns auch nur noch mit den toten Dingen. – Dafür aber mit den grundsätzlichsten Fragen der Materie.“ Da sucht der Biologe Rat bei dem Chemiker, und dieser sagt: „Wir sind zwar keine Mechaniker, denn die Substanzen, mit denen wir uns beschäftigen zeigen Hydrophobie, Hydrophilie, Reaktions-freude oder -trägheit. Das ist sicher keine Mechanik, das ist Chemie. Aber mit dem Leben haben wir auch nichts am Hut, es sei denn im Arbeitsschutz.“

Psychologe der Substanzen

Es fällt nun auf, dass der Chemiker erst wie ein Arzt gesprochen hat: Hydrophobie, Hydrophilie, dann wie ein Sportreporter: Reaktionsfreude, Reaktionsträgheit. Wollte man einen durchgängigen Bergriff für seine Betrachtungsweise finden, so hört sich das an, wie ein Psychologe der Substanzen. Darauf aufmerksam gemacht, weist der Chemiker das von sich, das seien eben nur so Bilder, die aus dem Lebensbereich entlehnt sind, um die Sache anschaulich zu machen.

Wie die Chemie solche Bilder gebraucht, die wir nicht ohne weiteres als mechanisch einordnen wollen, und wie sie in Verbindung stehen mit dem menschlichen Bewusstsein, hat Goethe einmal darzustellen versucht in seinen Wahlverwandtschaften:

Wahlverwandtschaften

Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand und es wäre wohl auch müßig dieses Kunstwerk durch Zitate wiedergeben zu wollen, so will ich es aus dem Gedächtnis versuchen. Eine Substanz, es sei im einfachsten Fall ein Salz, das aus den beiden Substanzen A und B besteht, bildet ein Paar. Der Vergleich mit dem einsam lebenden Ehepaar, das sich auf seinem ländlichen Anwesen langweilt, ist nur zu naheliegend. Dieses Paar lebt in Liebe und Eintracht, bis sie aus Langerweile je eine weitere Person einladen, die ihnen die Tage verkürzen sollen.

Es sind dies ein Hauptmann und eine junge Dame Ottilie, deren Liebreiz zwar nicht beschrieben wird, den zu ahnen uns aber der Dichter Anlass gibt. Diese beiden Personen kann man in nicht vollkommener Analogie als
CD bezeichnen, denn sie sind ja in der menschlichen Form kein Paar.

In der Chemie wäre das eine Säure, die selbst so ein Paar darstellt, aber da es nicht vollkommen pervers in dieser Geschichte zugeht, sind das zwei tugendhafte unabhängige Personen.

Nun kommt es zum Fall der Wahl: A-Eduard verliebt sich in C-Ottilie, B-Charlotte wird aus dem Salz verdrängt und geht halb notgedrungen eine Bindung mit D, dem Hauptmann ein. Als man noch gar nichts von der Parabel ahnt, wird diese Begebenheit aus der Naturwissenschaft abends am Kamin vorgelesen, denn alle vier begeistern sich für solche Darlegungen, und bei dieser Gelegenheit kommt es zu einer Erscheinung, die wir heute wohl nicht mehr kennen:

Die Damen empfinden ein lebhaftes Mitgefühl mit den Substanzen. Sie bedauern die Auflösung des Paares AB und machen sich lebhafte Sorgen um das Schicksal der Reaktionspartner. Das ganze delikate Geschehen des Romans, dass sich, wie wir gesehen haben, nicht auf eine bloße Kopie des in der Natur Vorgefundenen beschränkt, entwickelt sich mit Anstand und gegenseitiger Rücksichtnahme und nimmt mit dem Tod zweier Teilnehmer ein tragisches aber ebenso getragenes Ende.

Goethes Frau, Christiane soll empört gewesen sein über den skandalösen Roman, der da verfasst wurde, und in der Tat ist es wohl ein heißes Eisen, das er da angefasst hat, aber der Nachruhm, wenn dieser ein Maß von Qualität sein sollte, gibt dem Meister recht.

Indem nun der Chemiker seinen Substanzen solche Charaktereigenschaften beilegt, macht er nichts weiter, als uns eine einfache Richtschnur für den Umgang zu geben. Wir brauchen nicht erst zu versuchen, ob eine starke Säure auch unsere Haut zerfressen wird, wenn sie damit in Berührung kommt, sondern die allgemeine Reaktionsfreude gibt genügend Anlass zur Vorsicht auch bei noch nicht erprobter Reaktion.

Was lernt man?

Dennoch wollen wir die verbalen Entgleisungen der Chemiker nicht einfach ad acta legen, sondern noch ein bisschen dabei verweilen. Neben den mechanischen Kügelchen benutzt der Chemiker offenbar eine bildhafte Sprache, um darin etwas auszudrücken, das sich so wohl am besten wiedergeben lässt.

Wenn wir bei dem interessanten Gebiet der Liebe bleiben wollen, so sieht man diese als sicher an, wenn die Chemie stimmt. Das heißt noch nicht romantische Liebe mit all ihren Höhen, Tiefen und unvergleichlicher Romantik, aber das, was in der Natur notwendig ist, um als Paar zu existieren, sei immerhin gegeben.

Übrigens kann die Chemie ja nicht nur zwischen verliebten Menschen stimmen, sondern auch zwischen Männern oder Frauen, die nie die Absicht haben, miteinander ins Bett zu steigen. Das ist also bei aller Verschwommenheit ein Maß der Stimmigkeit zwischen zwei Partnern, und die Chemie stimmt immer noch, wenn man sich dann doch eher mal für einen anderen entscheidet.

Also die Chemie beansprucht nicht, das Geheimnis der Liebe zu klären, sie beschränkt sich auf die vernünftige, aber immerhin auch schon unfassbare Seite. Es kann nicht dazu dienen, solche Gleichungen aufzustellen, wie: Sie schläft gern lange und er steht stets früh auf, um ihr das Frühstück ans Bett zu bringen. Oder er spielt Klavier und sie lauscht für ihr Leben gern dem Piano. Wenn wir feststellen: Zwischen den beiden stimmt die Chemie, dann verlangt man von uns keine weitere Erklärung, denn das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Eindruck einer Tatsache, also etwas, das sich in uns festgesetzt hat. Und wir haben ja schließlich Erfahrung.

Wieder nur Mechanik?

Wenn der Chemiker also so etwas ist wie der Psychologe der Substanzen und somit der Atome ist, dann kommt ihm allerdings der Physiker in die Quere und sagt: „Das was Du Psychologie nennst, ich kann es erklären! Wenn sich zwei Atome miteinander verbinden, dann hat das rein energetische Ursachen.

Wenn AB mit CD zusammenstoßen, dann ist das so, dass die Kombination AC und BD eine niedrigere Energie besitzt. Deshalb gehen die fremd.“ Der Chemiker ist nun platt. Das, was er eben noch mit psychologischen Begriffen belegte, hat nun eine berechenbare Grundlage. Der Physiker gibt nun eine längere Erklärung ab, berechnet die Energie des Systems AB und CD und von AC und BD und weist nach, dass im zweiten Fall die Gesamtenergie kleiner ist und die überschüssige Energie als Wärme abgeht.

Der Chemiker fragt, wie denn die Lehre heiße, die solche Berechnungen erlaubt. Der Physiker ist sicher, den anderen zu beeindrucken, indem er sagt, das sei die
Quantenmechanik. Die meisten Menschen können sich darunter nichts vorstellen, so auch der Chemiker. Trotzdem bemängelt er: „Das soll alles mechanische Ursachen haben, wenn es sich dabei um eine Mechanik handelt?“

Der Physiker ist unwirsch, dass der Chemiker das jetzt an einem unzulänglichen Namen aufhängen möchte und will sich retten, indem er sagt, es gäbe auch die Quantenelektrodynamik. „Aber das ist doch auch eine Mechanik, nur eben die von bewegten Körpern“, lässt der Chemiker nicht locker. „Dann eben Quantentheorie. Sie stimmt aber hervorragend mit der Natur überein.“ „Aha, eine Theorie also“, sagt der praktische Chemiker nicht sehr beeindruckt.

Psychologie?

Wir wissen es nun nach Jahren besser, das wurde ja fast alles schon vor 1927 erfunden. Es handelt sich dabei wirklich um eine Mechanik, denn sie beschreibt per se tote Dinge, die keinesfalls mehr eine Psychologie haben dürfen, die wir ja nicht nur dem Menschen zuschreiben, denn schließlich gibt es auch eine Tierpsychologie.

Wir wissen, dass Psychologie eben nicht mechanisch ist, sondern eine unerschöpfliche Quelle der Erforschung, wahrscheinlich sogar die Beschreibung des Lebens selbst. Also auch eine Pflanzenpsychologie, eine Stein-, eine Elektronen- und Photonenpsychologie? Wir wissen, dass es das nicht gibt, dass nur die Esoteriker einen Einfluss der Pflanzen auf unsere Psyche und eine Psyche in ihnen sehen. Auch die Steine und das ganze Universum bleiben nicht verschont, und schon werden ihnen magische Kräfte eingeräumt.

All das darf man heute denken, schreiben und publizieren, und es unterziehen sich wesentlich mehr Menschen der Mühe, das zu verstehen, als dass sie zum Beispiel versuchen die Gedanken des Physikers nachzuvollziehen.
Um das richtig zu sehen, müssten wir uns in das Reich der Mathematik, der Symbole begeben, und das liegt den Wenigsten.

Es gibt eine ganze Reihe von Physikern, die für die Quantenmechanik sogar einen Nobelpreis bekommen haben, die aber trotzdem selbst an der Richtigkeit dieser Modelle zweifelten.

Radioaktiv

Als Beispiel wollen wir einen Prozess nehmen, der gar nicht durch die Quantenmechanik beschrieben wird, der aber am einfachsten das Problem veranschaulicht: Wie jeder weiß, können Atome zerfallen. Sie verwandeln sich dann in kleinere Bruchstücke und senden dabei manchmal Strahlung und andere Teilchen aus. Das ist besonders ausgeprägt bei radioaktivem Material, das manchmal schon nach wenigen Jahren zerfällt. Hat man eine größere Menge von diesem Stoff, sagen wir ein paar Gramm, dann kann man die Strahlung messen und daraus schließen, wie viele Atome pro Zeiteinheit zerfallen.

Wenn noch ziemlich viele Atome in ihrem ursprünglichen Zustand da sind, dann zerfallen sehr viele, und mit der Zeit werden es immer weniger, denn irgendwann sind ja die meisten schon zerfallen und das Angebot an unzerfallenen Atomen wird immer geringer.

Zufall?

Der Zeitpunkt, wann ein konkretes Atom zerfällt, ist nicht genau bestimmt. Lange tat man sich schwer und versuchte herauszubekommen, wodurch dieser Zeitpunkt bestimmt ist, und fand nichts, bis man sich endgültig entschloss, das als einen vollständigen Zufall anzusehen, der nur einem statistischen Gesetz folgt, nämlich einer bestimmten Zerfallskurve. Wenn man sich die Funktion für viele Atome anguckt, dann sagt das über das konkrete Ereignis aus, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nach einer gewissen Zeit eintritt, und das sei alles, was man herausbekommen kann.

Das bedeutet nun aber sehr viel, weil dieser Zerfall ja etwas auslösen kann. Wir erfahren es etwa durch den Lichtblitz, den das zerfallende Atom aussendet. Uns könnte das egal sein, aber wäre dieses Atom der Zünder einer Bombe, so würde sie zu einem Zeitpunkt explodieren, der durch das Atom vorgegeben ist. Der Zeitpunkt wäre dann ebenfalls ein absoluter Zufall.

Wir könnten nur sagen, dass sie mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit nach der und der Zeit explodiert. Das konkrete Ereignis hat also keine Ursache, sondern bricht über uns herein, wie das Leben selbst.

Die Freiheit des Atoms

Nun kommt die Crux. Wenn man dem Atom eine Freiheit zuschreibt, sich für den Zerfall zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst zu entscheiden, dann wäre das eben eine Entscheidung des freien Willens und wir müssten dem Atom ein Bewusstsein zuschreiben.

Ein schöner freier Wille sei das, der erlaubt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine genau vorgegebene
Sache zu machen! Aber wir werden sehen, dass es ich dabei um einen komplizierten Vorgang handelt, den nicht einmal wir Menschen nachvollziehen könnten, wollten wir mal so ein Ensemble von sagen wir 8 Milliarden Atomen spielen.

Das Gedankenexperiment

Dazu erinnern wir uns an die Tatsache, dass solch ein Ensemble die von uns beobachteten Naturgesetze einhalten muss. Die Zerfallskurve muss ziemlich genau eingehalten werden, und zwar umso genauer, je mehr Atome wir in dem Ensemble sind. Das sind die Gesetze der Statistik. Und das Gesetz der Physik gibt vor, wie genau diese Zerfallskurve auszusehen hat, und alles muss perfekt zufällig erscheinen.

Die ganze Menschheit spielt nun also so ein atomares System. Jeder hat einen roten Knopf, auf den er nur einmal drücken kann, dann hat der „Zerfall“ stattgefunden und denjenige ist aus dem Spiel. Diese „Zerfälle“ werden auf einem Computer gesammelt und in einer Kurve im Fernsehen übertragen . Wir sehen also die Sollkurve, das Naturgesetz, und eine Istkurve, die genau die Anzahl der bereits gedrückten Knöpfe registriert.

Die Messung beginnt: Eine Menge unbedarfter Leute drücken gleich einmal auf den Knopf und man registriert eine ordentliche Zerfallsrate. Dann sieht man allerdings, dass die Kurve zu hoch liegt, und viele entscheiden sich lieber etwas zu warten, um im entscheidenden Moment einzugreifen. Jeder kann ja nur einmal drücken, also muss man sich schon genau überlegen, wann man das letztendlich tut, ob man sich selbst aufspart, bis es mal so bedrohlich aussieht, dass man sich selbst einbringen muss, oder eben warten und warten, bis die Kurve ganz weit abgeklungen ist und man vielleicht sogar der letzte ist, der auf den Knopf drückt.

Wäre dieser Knopfdruck auch das wirkliche Ende dieses Teilnehmers, wie es bei dem Atom der Fall ist, dann würde vielleicht jeder warten, solange wie möglich, und das ganze Experiment wäre im Eimer. Man kann sich vorstellen, wie schwierig die Einzelentscheidung sein würde, dass es vielleicht sogar zu Panik kommen könnte und mit einem Mal sehr viele Menschen drücken würden. Ein vernünftiges Experiment käme wahrscheinlich nicht heraus.

„Es ist der Mensch, so er spielt.“
(Schiller)

Gute Chancen für einen exakten Ausgang des Experimentes bestünden dagegen, wenn die Menschen es als Nebensache ansehen würden, gelegentlich mal eben auf diesen kleinen roten Knopf zu drücken, wenn sie spielen würden wie Kinder, die dann mal eben das rote Ding entdecken und mal draufdrücken, um zu sehen, was da passiert. Das wäre wesentlich entspannter und hätte wahrscheinlich auch das richtige Ergebnis. Der Beobachter, dem sehr viel an diesen roten Knöpfen gelegen ist, würde das Ergebnis als mittleren Intelligenzquotienten dieser Spieler ansehen und alles wäre in Ordnung.

Das spielende Kind kann natürlich nicht wissen, ob es sich bei dem Knopf um eine Gefahr, eine gleichgültige Sache handelt oder ob es eine Belohnung verspricht, denn es hat ja nur einen Versuch. Es sei denn, es würde bereits aus dem Beispiel der anderen die Konsequenzen erlernen, aber dann müssten sie nicht nur selbst Bewusstsein haben, sondern auch auf die anderen achten, was zweifellos der Fall wäre.

Wäre das nicht sogar eine höhere Intelligenz zu nennen?

Disziplin?

Uns ist nicht bekannt, ob ein radioaktives Atom dahin strebt zu zerfallen, oder ob das als eine unangenehme Begleiterscheinung des manchmal kurzen Lebens angesehen wird. Deshalb können wir auch nicht entscheiden, ob sie klug oder unklug handeln, wenn sie sich entschließen auf den roten Knopf zu drücken. Würde das den Tod bedeuten, dann wäre ihre Disziplin, trotzdem irgendwann darauf zu drücken, ein Opfer, wie es Soldaten bringen, die in den Krieg ziehen.

Wäre es mit der Belohnung verbunden, ein anderes Wesen zu werden oder eben einen niedrigeren Energiezustand anzunehmen, dann wären sie sehr geduldig, wenn sie dabei ein solches statistisches Gesetz einhielten, was, wie wir oben gesehen haben, so etwas wie eine kollektive Weisheit voraussetzt.

Wir sehen, eine ganze Welt könnte sich hinter dieser Statistik verbergen und es ist nicht ganz auszuschließen, dass es sich dabei um Entitäten handelt, die ein Eigenleben führen, von dem wir aber nur sehr wenig wissen. Ein Gebiet, das seit geraumer Zeit der Metaphysik zugerechnet wird, den Bereichen, über die wir nichts erfahren können.

Für andere Systeme ist bereits bewiesen, dass es keine zusätzlichen Parameter gibt, die die gewünschte vollständige Beschreibung ermöglichen.

Das geheimnisvolle Reich

Wir wollen diese Grenze des Erfahrbaren mal einfach anerkennen und uns fragen, was in diesem geheimnisvollen Reich sein könnte, das wir den Mikrokosmos nennen. Wenn es dort eine Psyche geben sollte, dann können wir getrost unsere eigene als Maßstab nehmen, um den Umgang damit zu regeln. Für das erste stellen wir fest, dass wir dann von den Motiven des Atoms oder eines anderen Mikroteilchens wenig wissen, auch nicht von dem Reifegrad dieser Psyche.

Es bietet sich uns eine wahrscheinlich unzugängliche Welt dar, die sich in unserer Welt nur sehr einfach äußert, wie in dem Beispiel mit den roten Knöpfen. Dennoch sollte es möglich sein, wenn wir nur diese nicht auszuschließende Möglichkeit einmal annehmen wollen, unser Gefühl so zu stimmen, dass wir uns hineindenken können.

Der erste Impuls wäre vielleicht, nun gar nichts mehr zu tun, nicht mehr zu atmen, oder wenigstens wie die Buddhisten jede Fliege von unserem Weg sanft fortzufegen, bevor wir unseren Fuß auf den Fliegenschwarm von Elektronen setzen, aus denen der Asphalt sowohl als auch die Steine bestehen. Selbst das wäre zu unterlassen, da wir nicht wissen, welches Leid wir in die kleine Welt tragen.

Das kann es sicher nicht sein. Unser Gefühl sagt uns, so unterschiedlich gebildet es auch sein mag, dass man wohl atmen, gehen, essen kann. Wenn wir aber unbedingt etwas wissen wollen, von dem bereits bekannt ist, dass es nicht gehen kann, wenn wir der Mikrowelt immer und immer wieder Sinnloses abgewinnen wollen, dann könnte es schon einmal sein, dass diese kleinen Wesen, von denen wir noch gar nicht wissen, wie mächtig sie sind, einmal der Geduldsfaden reißt und sie ihre Disziplin aufgeben.

Von einigen Physikern und Philosophen wurde schon die Frage erörtert, ob nicht vielleicht unsere unstrittige Freiheit eigentlich die Freiheit dieser Atome ist. Das wurde abgelehnt, denn die Wirkungen eines einzelnen Atoms werden als zu klein angesehen und nichts deutet darauf hin, dass sich ohne unser Zutun, ein einzelnes Atom quasi zum Diktator aufschwingen würde und alle anderen so synchronisiert, dass es zu einer handfesten Wirkung kommt. Es könne nicht sein, dass ein genialer Gedanke von Einstein von einem einzelnen Atom ausgelöst wurde, meint Sir Arthur Stanley Eddington, einer der wenigen, die über solche Fragen je nachdachten.

Dem kann man nur zustimmen, so kann man sich die Welt nicht vorstellen, unser Makrokosmos gesteuert von einem Mikrokosmos. Aber wir befinden uns auf schwankendem Boden, mitten in der Metaphysik, wo es kaum eine Richtschnur gibt, wann dort eine Wahrheit gefunden ist. Manchmal wurde ein Gebiet der Metaphysik zugerechnet, das sich dann später als doch wahrnehmbar herausstellte. Nur daran können wir die Wahrheiten, die auf diesem Wege gefunden wurden, messen. Oft genug waren sie richtig, wie die Atomhypothese, oft genug waren sie falsch.

Ein Wahrheitskriterium könnte die Poesie einer Hypothese sein, weshalb wir uns hier des künstlerischen nicht ganz verschließen und versuchen, uns vernünftig auszudrücken.

Wo nun nach und nach die mechanischen Uhren nicht mehr unsere Wahrnehmung verkleistern, könnte es sein, dass wir uns in Ruhe dieser Möglichkeit widmen könnten, denn mehr ist es ja auch nicht, als eben eine Möglichkeit. Die ersten Kolonisatoren, als sie die Neger sahen, gingen nicht davon aus, dass es sich bei diesen um Menschen handelt, sondern irgendwie niedere Wesen. In den Zeiten der mechanischen Uhren, der Autoritäten, des Ehrgeizes, der Technik entstand die Quantenmechanik. Jetzt stagniert das Ganze schon eine geraume Zeit, Zeit zum Nachdenken, zum Mitfühlen.

C.R. 14.01.2006

Leben in der Physik