Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Ehrfürchtig und heilsam sein

Ehrfürchtig und heilsam sein

Furcht ist etwas anderes als Angst, während letztere nur nützlich ist, ist die Furcht besonders lehrreich dazu. Und Ehrfurcht ist die Furcht vor der Ehre eines anderen, der sich sicher sein kann, dass seine Ehre gerechtfertigt ist und diese notfalls, wenn vielleicht auch nur mit Worten, verteidigen kann. Das kann dann schon mal ehrfurchtgebietend werden.

Sie sehen, man kann sich in unserer Sprache aalen, aber einer sagte auch mal, dass man, je weiter man nach Osten käme, die Sprache immer reicher würde. Diesen Reichtum zu erlernen, ist fast unmöglich, auch wenn wir Deutschen in dem Ruf stehen, uns angelegentlich für andere Völker zu interessieren, manchmal war das allerdings, um uns einer gewissen Überlegenheit gewiss zu werden, aber diese Weltoffenheit hat sicher auch das Potenzial verbindend zu wirken.

Man nehme nur den Begriff »Вечная слава« aus einer mir einigermaßen bekannten Sprache. Man kann es heute noch mancherorts sogar bei uns lesen und die wenigsten verstehen es noch. Ist das fortgewischt, weil wir diese beiden Worte nicht mehr verstehen, nicht einmal mehr lesen können? Haben wir diesem Volk hinreichend Ehre gezollt und wie verhält es sich jetzt?

Die Zeiten sind aufgebrochen. In Köpenick hat man jüngst erfahren, was 30 Stunden Stromausfall bedeuten, Mehl ist immer noch ausverkauft, auch wenn es für uns nur eine Zugabe, für viele auf der Welt aber noch ein echtes Nahrungsmittel ist, und wozu man bei einem drohenden Atomkrieg so viel Klopapier braucht, dass es das auch nicht mehr gibt, erschließt sich wohl nur dem, der die unmittelbaren Folgen der blanken Angst abzuschätzen versteht.

Haben wir keine Furcht und machen uns schon lange keine Gedanken mehr, was Ehrfurcht eigentlich ist, so bekommen wir es eines Tages eben mit der Angst zu tun, so scheint der Lauf der Dinge.

Und heilen können, ist auch nicht mehr nur die Domäne der Mediziner, an deren gottgleichen Image heftig gekratzt wird in letzter Zeit. Wir sind nahe daran, dass uns unsere Ärzte sagen: macht euern Kram doch alleine, wenn ihr alles besser wisst. Dabei ist es doch richtig, dass heilen eine moralische Voraussetzung hat. Da wir aber alles in Geld zu messen gehalten sind, und sich die Moral dem schon, solange wir Geschichte schreiben, entzieht, uns auch keine gemeinsame Kultur mehr hilft, die dergleichen voraussetzt, stehen wir ein bisschen auf dem Schlauch.

Trotzdem darf man bei dem Heilenkönnen auch das Können nicht unterschätzen, das die meisten Ärzte auch dank eines unvergleichlichen Auswahlverfahrens, dass es nur die besten werden dürfen, wirklich aufweisen. Im Grunde sind es auch seltene Fälle, wo bei den meisten Menschen Heilung nötig ist, man sollte sich zunächst gewahr werden, was das verbreitetste Leiden heute ist. Das sind nicht nur psychische Schäden, die man nach und nach alle als Krankheiten anerkennt, sondern das geht bis zu den Befindlichkeiten, dass man eine tatenlose und resignierte Einstellung entwickelt, übervorsichtig wird und dass man der Sinnlosigkeit verfällt. Das nun ist vielleicht das verbreitetste Leiden, das wir dann gar nicht mehr den Medizinern allein aufbürden können, auch den Lehrern und Erziehern nicht, nicht den Jugend- und Familienhelfern, nicht den Altenpflegern, da sind wir dann vielleicht alle mal gefragt. Und wenn wir unter diesem Aspekt auf die Welt schauen, meistern es andere Völker viel besser, noch Lebensfreude und Lebenssinn zu erhalten, auch wenn es in deren Läden an mehr als nur an Mehl und Klopapier mangelt und der Bevölkerung an Kleingeld.

Wir glauben uns von überlebten Traditionen befreit zu haben, und haben mal wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Vor 250 Jahren dämmerte die Romantik herauf, als Gegenbewegung zu der doch einigermaßen nützlichen Aufklärung, die die Welt, wie sie meinten, in ein einziges Mühlwerk verwandelt hätte. Sie beklagten sogar, dass man die Erde aus ihrem Mittelpunkt und ihr die Ruhe genommen hätte und wurden nach all dem Blutvergießen um die richtige Religion dann fast alle katholisch. Alle Utopien maßen dem Konservativen, wie es durch kundige Alte früher verkörpert wurde, großes Gewicht bei, und wo sollte man da vorsichtiger sein, als bei dem Vergessen und der Aushöhlung von Traditionen. Haben wir denn noch welche?

C.R. im Waltersdorfe am 2. Mai 2022