Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Physikalischer Advent 2005

Die Experimentierhalle stand voller Gerätschaften. Nur ein schmaler Gang am Rand war vom Chaos verschont und frei geblieben. Alle anderen vakanten Plätze füllten sich unver­meid­lich mit irgendwelchen Apparaturen, die dann meistens wochenlang oder gar Jahre herum­standen, ohne benutzt zu werden. Jeder leere Schrank füllte sich nach kurzer Zeit mit gerüm­pel­ähnlichem Zeug. Das Brauchbare war schnell verschwunden und das Überflüssige suchte sich einen Ruheplatz für einen längeren Winterschlaf in den Schränken und Regalen. Es gibt auch einen Aufenthaltsraum, in dem man Essen und umsonst Kaffee und Kakao trinken kann. Auf jedem der sechs Tische stand ein Weihnachtsstern und an den Fenstern hingen beleuchtete aus Holz, die sehr rot waren und sehr schön durch­brochen. Sah man diese Schmuckstücke, wusste man, hier ist Ikea- und Astrid Lindgrenland und auch, dass es Weihnachtszeit ist.
Wie viele Menschen der neun Millionen Schweden und Ausländer in dieser Halle arbeiten, konnte man nicht wissen, denn ausgehend von der Mitte, einer Insel mit dicken Betonmauern und dicken Türen, zog sich ein Gewirr von Vakuumapparaturen, so genannter Beamlines durch die Halle. Beam ist ein Strahl und Line natürlich eine Linie. Beam kennt inzwischen jeder, weil man sich ja irgendwo hinbeamen kann, d.h. sich selbst an einen anderen Ort übertragen. Was hier aber übertragen wurde, das waren nicht fernwehkranke Menschen, sondern eben ganz kleine Kügelchen, über die man schon so lange nachdenkt, wie es Licht und nachdenkliche Men­schen gibt. Newton hatte sie Globuli genannt. Dieser Begriff hat sich aber mit der Zeit verloren. Der Beam besteht also aus Lichtteilchen, Photonen, wie wir heute dazu sagen. Sie sind so klein, dass man sie gar nicht fragen kann, ob sie die Reise über etwa 30 m aus dem betonierten Bunker in der Mitte durch so eine Beamlinie antreten wollen, sondern man schickt sie einfach los. Da sie ein ziemlich bunter Haufen sind und man sich gern mit einer bestimm­ten Sorte beschäftigen möchte, werden die richtigen ausgesondert mit einer Farbe, wie sie gerade gewünscht wird. Das besorgt eine voluminöse Vakuum­kammer mit optischen Elementen.
Gar nicht wunschgemäß verliefen die Tage für Gerhard, der mit einigen Kollegen seiner Firma eine solche Beamline neu installieren sollte. Alles war bereits aufgebaut, aber jetzt mussten die Dinge zum Laufen gebracht werden. Das würde mindestens zehn Tage dauern, und wenn er zurückkommt würde bereits der dritte Advent sein. Gerhard war kein Physiker sondern Ingenieur. In der Installationsgruppe waren zwar alle anderen Physiker, sie schrieben die Software, setzten die sündhaft teuren Spiegel und die Kühlungen ein, denn dieser Beam von Photonen hatte so viel Energie, dass er die vergoldeten Spiegel der Beamline leicht aufheizen konnte. Auch wenn das nur wenige Grad gewesen wären, hätte sich dadurch die Spiegelform bereits um ein Geringfügiges verändert und die ganze Abbildung der Photonen hätte nicht mehr geklappt. Es erforderte starke Nerven mit diesen länglichen quaderförmigen Spiegeln im Cleanroom umzugehen, denn sie waren unersetzlich und sehr teuer. Eigentlich war es ein Erfordernis, dass alle gute Laune haben, dass dabei nichts passiert. Aber Gerhard hatte keine gute Laune, sondern verzog sich sofern er konnte in den Frühstücksraum, wo er dann ganz allein an einem der Tische mit den Weihnachtssternen saß, Kakao trank und nichts sagte. Gerhards Gedanken waren auf der anderen Seite der Ostsee, zu Hause. Gedanken­verloren las er in einem Buch von Reinhold Messner: Mein Leben am Limit. Das war wenigstens etwas, auch wenn er seinen Bruder am Nangha Parbat verloren hatte.
Jetzt kam Sebastian, der eine Physiker, in den Pausenraum: „Wollen wir nicht langsam anfangen, Gerhard?“ … „Injection“, murmelte Gerhard nach einigem Zögern mehr vor sich selbst hin und zeigte mit einer wegwerfenden Geste auf einen großen Monitor auf dem Schrank. Das bedeutete, dass der Speicherring gerade mit frischen Elektronen beschickt wurde, wobei schädliche Röntgenstrahlung, die ja aus sehr harten Photonen besteht, austreten kann. Da durfte man sich nicht an der Beamline aufhalten und musste sich notgedrungen anderweitig beschäftigen, weshalb sich dann auch mehrere Leute an dem Kaffeeautomaten im Pausen­raum sammelten. Aber heute war auch noch Sonnabend, und so waren es noch weniger Leute in der Halle als sonst. Sebastian und Gerhard waren die einzigen Deutschen der Gruppe, auch wenn es eine deutsche Firma war, für die sie arbeiteten. Der Fleißigste war Pavel, ein Tscheche und Nikolai, ein Moskauer, saß fast den ganzen Tag am Computer, worin im Prinzip auch seine Aufgabe bestand. Was er allerdings genau tat, war den anderen ein Rätsel. Die beiden hatten Gerhards schlechte Laune schon bemerkt und Sebastian gebeten, ihn ein bisschen aufzuheitern.
„Hast Du Sorgen?“ Etwas Besseres war Sebastian nicht eingefallen, den ihm vertrauten jungen Kollegen zu fragen. Erwartungsgemäß bekam er keine Antwort, auch wenn Sebastian das Schweigen als ein wenig ungehörig empfand, denn Gerhard musste klar sein, dass alle unter seiner Laune litten. Außerdem war Sebastian der Projektleiter, woraus Gerhard sich aber wenig machte, denn sie waren ja nur eine kleine Firma. Gerhard hatte die Statur und Physio­gnomie eines gutausse­henden Boxers. Seine Kraft wurde auch gebraucht, denn das Festziehen der größeren Vakuumflansche war ein athletischer Akt, der wegen des Platz­mangels manch­mal auch noch von Verrenkungen begleitet war. Die Kabel mussten auf dem Boden liegend eingefädelt werden. Aber mit dem Schrauben war es noch nicht so weit, erst musste die Optik installiert werden und dann folgten noch ewige Tests.
Nachdem genug Zeit verstrichen war, dass man die folgende Bemerkung nicht mehr als Antwort auf die Frage hätte werten können, sagte Gerhard: „Das ist doch alles Mist was wir hier machen. Ob so ein Beschleuniger arbeitet oder nicht, das bringt ja doch nichts ein.“ „Aber wir leben immerhin davon“, wandte Sebastian ein. Ja diese Teile, die sie bauten, waren wirklich einiger­maßen teuer, und wo bekam man schon so schnell mal eine Million als Auftrag zusammen. „Ihr lebt ganz gut, aber ich bekomme ja nicht mehr als ein normaler Facharbeiter“, damit spielte er auf sein Gehalt an, das wirklich nicht üppig war. „Es müsste doch einen Sinn haben. Man möchte doch an etwas arbeiten, das auch einen Zweck hat. Wenn ich jemandem versuche zu erklären, was wir hier treiben, werde ich immer nur ganz entgeistert angesehen, so als könnte man das gar nicht verstehen.“ Gerhard war ja noch in dem Alter, wo man in die Disko geht, wo ohnehin kaum eine Verständigung möglich ist. Wie sollte man da etwas kompliziertere Sachen erklären. Gerhard schob die leere Kakaotasse über den Tisch, was so viel hieß, wie: Ich brauche sie nicht mehr, Du kannst sie wegräumen. Wieder so eine kleine Unverschämt­heit, aber Sebastian wollte keinen Streit und als könnte von seiner Versöhnlichkeit gute Laune erzeugt werden, nahm er die Tasse und warf sie in den Müllbehälter.
Jetzt sagte der Lautsprecher: „Injection completed“, was so viel hieß, dass man sich wieder an die Arbeit begeben müsste. Sie durchschritten den langen Gang und räumten an ihrer Beamline die Warnleine wieder weg. Es war immer noch beliebig viel zu tun, auch wenn man eben nicht in Hektik verfallen konnte, denn diese Injektions­pausen, die regelmäßig einzulegen waren, unterbrachen einen ohnehin.
Es war immer ein ziemlicher Geräuschpegel in der Halle. Überall liefen Vakuumpumpen, denn die meisten Photonen der Farbe, für die man sich vorwiegend interessierte, konnten längere Strecken nur im Vakuum zurücklegen. Noch höhere Ansprüche stellten die Elek­tronen in dem Speicherring, die hinter der Betonbarriere in einer engen Röhre ihre Kreisbahn zogen und die bei der geringsten Wechsel­wirkung mit irgendwelchen Gasatomen sofort auf nimmer Wiedersehen verschwunden waren. Weil in dem Ring trotz des Vakuums aber immer noch solche Atome enthalten waren, gingen sie immer nach ein paar Stunden nach und nach verloren, und dann musste es eben eine neue Injektion geben.
Die Kammer, an der sie gerade pumpten, ging nicht im Druck herunter, so dass sie ver­mu­ten mussten es sei eine Undichtigkeit vorhanden, eben ein Leck. Sebastian legte das Ohr an die stählerne Kammer, die etwa die Größe einer Badewanne hatte. Da hörte er in dem allgemeinen Geräuschpegel so etwas wie einen leisen Chor. War das nicht der berühmte Gefangenen­chor aus Nabucco? Es war – ganz leise, kaum zu hören. Das konnte natürlich nicht sein, es sei denn, jemand an einer an den anderen Beam­lines hatte sich einen Scherz erlaubt und eine Melodie in das riesige verästelte Metallgefäß eingespeist. „Hör mal“, sagte er zu Gerhard. Der lauschte und sagte: „Es rauscht, wir haben bestimmt ein Leck.“ Sebastian versuchte ihm klarzumachen, dass er etwas anderes meine, aber traute sich nicht, die langsam in ihm aufsteigende Vermutung zu äußern. Photonen hatten sie ja noch nicht in der Beamline, denn die Schieber waren alle noch geschlossen. Also wenn ein Scherz oder Sinnestäuschung ausgeschlossen wären, dann musste es aus dem Inneren des Betonbunkers kommen. Diesen zu betreten war streng verboten, es durfte sich während des Betriebes überhaupt kein Mensch dort aufhalten. Soviel wusste Sebastian von diesen Maschinen.
Gerhard war nicht aufzuhalten. Mit seinen starken Muskeln zog er die Schrauben nach. Dann lauschte er wieder, dann sah er auf das Messinstrument, dann zog er noch eine Runde um den Flansch. „Das ist ein Krach hier, man kann das feine Rauschen gar nicht hören“, maulte er. Sebastian war jetzt am Flansch, der direkt an der Betonwand war. Er hatte so eine Art Stethoskop mit einem Metallstab am Ende aufgetrieben, auch so eine nutzlose Sache, die irgendwo herumlag, und hatte damit am ersten Flansch gelauscht. „Hier hör mal“, reichte er es Gerhard. Der stülpte es sich über und legte den Metallstab an den Austrittsflansch. „Hört sich an wie Musik, doch was soll das, wir wollen endlich fertig werden.“ Schon hatte er das Stethoskop weggelegt und bereits wieder die Schraubenschlüssel in der Hand. Damit hatte er eigentlich Recht, denn sie mussten sehen, dass sie im Zeitplan blieben.
Tatsächlich ließen sie es dabei bewenden, machten sich noch ein Abendbrot im Aufent­halts­­raum und fuhren dann ins Hotel. Gerhard verstand sich auch als Kraftfahrer und malträ­tierte den Firmen-Kleinbus, dass man in den engen Straßen der Universitätsstadt nur so hin und her geworfen wurde. Als sie am Hotel ausgestiegen waren, ging er allein davon, ohne ein Wort zu sagen und ließ die anderen drei allein auf ihre Zimmer gehen. Sebastian machte sich noch Sorgen, was wohl wäre, wenn Gerhard nun einfach seiner Wege ging und sie keinen Auto­schlüssel mehr hätten. Dann würden sie mit dem Taxi zur Arbeit fahren müssen. Aber am nächsten Morgen war Gerhard wieder da und aß allerdings nur ein paar Cornflakes, sonst nichts, ganz gegen seine Gewohnheit. Er wäre lieber mal nach Stockholm gefahren, als schon wieder einen ganzen Tag am Wochenende an der Beamline zuzubringen. Aber daran war nun nicht zu denken, wo es so schleppend voranging. Man schwieg beim Frühstück, bis Nikolai auf Englisch sagte: „Vor zweihundert Jahren war die Schlacht von Austerlitz.“ Er war Napoleonfan, das wusste Sebastian. Pavel verbesserte ihn: „Das war gestern.“ Er hatte es auch im Internet gesehen. Nikolai hatte Ende November vergessen das Datum an seiner Uhr einen Tag weiterzustellen. Plötzlich lebte der schlechtgelaunte Gerhard etwas auf: „Das mit der Musik aus dem Tunnel passt doch ganz zu Deiner ‚Theorie’ Sebastian.“ Auch er hatte englisch gesprochen, damit alle Anteil nehmen können an seinem kleinen Angriff, der nicht anders enden konnte als diese Schlacht vor zweihundert Jahren und einem Tag.
Die anderen konnten nicht wissen, was gemeint war, denn diese Theorie hatte Sebastian nicht weiter verbreitet, zumal sie eigentlich nur in einer einfachen Hypothese bestand, nämlich dass die Mikrowelt belebt sein könnte, mit einem Bewusstsein begabt, wie wir Menschen das gemeinhin nur von uns selbst annehmen. Was er definitiv wusste, war, dass Elektronen nur in Wechsel­wirkung mit der Umwelt treten, wenn sie irgendwie gefangen sind, und sie tun es mit Photonen. Zwingt man sie von ihrer geraden Bahn abzuweichen, dann senden sie eben Photonen aus, und gerade das benutzte man in dieser Maschine als Lichtquelle. Oder wenn Elektronen im Atom gefangen sind, dann senden und empfangen sie auch ständig Photonen vom Atomkern, was man aber nicht nachweisen kann. Es gibt sie nur in der Theorie, einer richtigen, weil physikalischen Theorie, und daher nennt man sie vorsichtig virtuelle Photonen. Aber das mit dem Gesang war sicher Quatsch.
Als sie wieder an die Beamline kamen, war diese mit einer Lichterkette verziert. Lauter bunte Lämpchen waren um das Strahlrohr gewunden und keiner wusste so recht, wer das gemacht hatte. Dann war wieder Injection und so konnten sie nicht nah an die Maschine heran. Sie mussten sich wohl oder übel wieder in den Aufenthaltsraum begeben. „Was ist denn Deine Theorie?“, knüpfte Pavel an das Hotelfrühstücksgespräch an. Er konnte sehr gut Deutsch und unterhielt sich gern mit Sebastian in dieser Sprache. Sebastian wollte sich nicht vor seinen Kollegen blamieren und gab eine ausweichende Antwort. Doch Gerhards Spott war unbezwingbar: „So nah warst Du wahrscheinlich noch nie am Nobelpreis“. Was das für ein Nobelpreis sein sollte? Vielleicht der Friedensnobelpreis für den Frieden zwischen den bewussten Wesen auf der Welt, des Mikro- und des Makrokosmos, denn diesen Frieden sah Sebastian im Stillen als bedroht an. Es stand wohl außer Frage, dass man die Elementar­teilchen benutzen durfte, aber hatte nicht selbst Gerhard daran gezweifelt, dass es in diesem Fall überhaupt Sinn hatte. „Erzähl doch mal von der Musicbox und was Du Dir darauf für einen Reim machst“, drängte er Sebastian noch einmal. „Was meint ihr, wer die Lichterkette angebracht hat?“, wollte sich Sebastian aus der Affäre ziehen. „Nein erzähl mal, wofür Du den Nobelpreis bekommen möchtest“, hakte nun auch Pavel nach. „Ich möchte ihn gar nicht bekommen, auch wenn ich natürlich mächtig stolz auf so eine Anerkennung wäre. Meine Frau und ihre Freundin haben sich schon gefragt, was sie da anziehen würden. Ich habe nur gestern am Austrittsflansch Nabucco gehört, das ist alles, mit dem Stethoskop, das da rumlag.“ „Sicher den Gefangenenchor“, sagte Pavel, der der Einzige war, der über genügend Bildung verfügte, um das zu kennen, „der ist wirklich vorzüglich.“ „Du sagst es“, gab Sebastian zu, der natürlich wusste, wie absurd so eine Sache erscheint, auch wenn er sich sehr gut denken konnte in seinen animistischen Vorstellungen, dass diese Elektronen, die da herumgejagt werden, eben so einen Gesang von sich geben könnten.
„Injection completed“, sagte die Lautsprecherstimme, aber alle vier blieben sitzen, denn schließlich war heute Sonntag, der zweite Advent, und sollte man sich wie diese armen Elementarteilchen in die Sielen begeben, immer auf Befehl? „Man müsste mal ein richtig interessantes Experiment machen, was die Welt aufhorchen lässt“, schwärmte auf einmal Gerhard los und zog sofort wieder alle Sympathien auf sich: „Vielleicht ist da ja mit den musikalischen Elektronen was dran. Wie wäre es, wenn man mal ein Photon in einer Art Falle einfangen könnte und es dann untersuchen.“ „Das geht nicht“, sagte Kolja jetzt auf Russisch, was wörtlich hieß: Es arbeitet nicht. Soviel verstand selbst Gerhard noch von dieser Fremd­spra­che, dass er wusste was Nikolai meinte, aber er wollte es trotzdem nicht wahrhaben: „Einige Sekunden Aufenthaltsdauer sollten schon genügen, um es ein bisschen abzuklopfen.“ „Ach Rudi“, sagte jetzt Sebastian, „das ist es doch gerade, der entscheidende Fehler, dass man überall Fallen stellt, statt den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Schon bei dem Gedan­ken an Ionenfallen, die es ja schon gibt, wird mir immer schlecht. Das funktioniert immerhin, aber Entscheidendes ist dabei auch nicht gerade herausgekom­men.“
„Ihr schafft doch Euren Kram heute alleine“, verabschiedete sich Gerhard von den Physikern und verschwand in dem Cleanroom am Rande der Experimentierhalle, wo er ein starkes Mikroskop fand. Die drei anderen hatten sich wieder an die Arbeit getrollt, keiner achtete weiter auf den jungen Ingenieur. Gerhard suchte in der Optikhutch und fand ein paar hervorragende Spiegel von etwa einem Zoll Durchmesser. Er kratzte mit einer Reißnadel ein kleines Loch in die Spiegelschicht des einen und fügte beide Spiegel mit Knete mit den Spiegelflächen parallel zueinander zusammen. Durch das Loch würde ein Photon eindringen können und wenn er Glück hatte, würde es sich eine Weile darin aufhalten. Sein Plan war, sich das Verhalten des Photons unter dem Mikros­kop genau anzusehen und legte sich einen Notizblock zurecht, um aufzuschrei­ben, was er dabei beobachtete. Als erstes musste er seine Falle natürlich aufladen. Da das Loch mikrosko­pisch klein war, würde er es starkem Licht aussetzen müssen, damit sich vielleicht ein Photon darin häuslich einrichtet. Aber an solchen Beamlines, die beliebig viele Photonen hergaben, war ja in der chaotischen Halle kein Mangel. Fast alle Arten von Photonen schwirrten da herum, und eines würde bestimmt für seine selbstgebastelte Falle passen. Er ging an eine der herrenlosen Beamlines, suchte auf dem Computer nach dem Strahlshutter, öffnete die Beamline und hielt seinen kleinen Apparat an deren Ende, mit dem winzigen Loch zum Strahl hin. Dann wickelte er das Ganze in ein Stück Aluminiumfolie und kehrte rasch in den Cleanroom an das Mikroskop zurück.
Durch das kleine Loch, das freilich unter dem Mikroskop haustürgroß erschien, konnte er in den verspiegelten Zwischenraum sehen. Die von weitem glatt aussehende Spiegelschicht war in Wirklichkeit ein bisschen rau, sie sah aus wie eine Wand aus Kristalliten, die anein­ander stießen. Zunächst war nichts zu sehen außer dieser Mondlandschaft, dann endlich sah er so etwas wie ein kleines blaues Funkeln hinter einem dieser Trümmer. Jetzt kam ihm der Gedanke, dass er keinerlei Möglichkeiten hatte, sein Experiment zu steuern, und Geduld war auch nicht gerade seine Stärke. Vielleicht würde eine Willensanspannung genügen, das Flämmchen hinter dem Kristallit hervorzulocken, wahrscheinlicher war aber, dass man besser abwarten sollte, so schwer das auch fiel.
Lange musste er auch nicht warten, da wagte es sich hervor, war ganz Schimmer und schien fast durchsichtig. Die Korona war kugelförmig, aber in dem Schein zeichneten sich feine phosphoreszierende Knöchelchen ab, die ein richtiges Gerippe bildeten. Das Gesicht war wie von einer glänzenden Flüssigkeit gebildet und konnte sich bewegen, indem es etwa so langsam wie die Blase einer Wasserwaage sich nach oben wendete und skeptisch die künstlich geschaffene Öffnung, die haustürgroße beäugte, als wolle es sofort wieder fliehen. So musterten sie sich Auge in Auge durch das Mikroskop, und Gerhard verstand so viel von Optik, dass er wusste, dass wenn ihm das Wesen dort unten so nah erschien, er selbst deshalb um so entfernter für das Photon erscheinen musste. Daher wohl ließ dieses das Gesichtchen wieder in die Vertikale schwimmen und begann sich in seiner Höhle nützlich zu machen. Es rieb an den Zacken der Spiegelschicht, und machte sie noch ein bisschen glänzender. Je mehr dieser Spitzen erstrahlten, desto heller wurde auch das Weslein. Soviel Gerhard durch die Haustür der Photonwohnung erspähen konnte, verwandelte sich die Oberfläche der Spiegel in eine glitzernde Lichtmatte, wie sie manche Leute zur Weihnachtszeit über die Lebensbäume breiten, um deren Konturen in Lichtlein nachzubilden. Und wie sich die Helligkeit des Wes­leins verstärkte, so beschleunigte sich auch dessen Arbeitstempo.
Schon war die Helligkeit des Bildes für das normale Auge nicht mehr zu ertragen und Gerhard nahm gerade noch den Kopf vom Okular, da sah er schon, wie ein Laserstrahl daraus hervorschoß, der scheinbar dem entfernten Beobachter gegolten hatte, welcher sich aber rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Der Strahl hinterließ an der Decke eine rußige Stelle, die noch nach Minuten etwas qualmte. Allmächtiger! Gerhard traute sich kaum noch die beiden verkitten Spiegel unter dem Mikroskop hervorzunehmen, um den Zwischenraum vielleicht noch einmal aufzuladen oder seinen Apparat den immer leicht arroganten Physikern zu präsentieren. Als er sich doch dazu entschloss, verbrannte er sich die Finger, so heiß war das Ding geworden. Die Knete lief an der Seite herunter. Der Abstand der Spiegel musste jetzt sehr klein geworden sein. Vielleicht war es dem Photon einfach zu eng geworden und es fühlte sich wohl doch nicht so wohl in einer Falle.
Was Gerhard nicht wissen konnte, war, dass zu jedem Photon manchmal auch ein zweites gehört, ein sogenanntes verschränktes Photon. Alles was das eine Photon tut, erleidet dann auch das andere verschränkte und sei es auch noch so weit entfernt. Es konnte also sein, dass dieses Experiment an ganz anderer Stelle verfolgt wurde und zu genau der gleichen Zeit. Was sollte er nun anfangen mit seiner Entdeckung. Er holte Sebastian und zeigte ihm den Fleck an der Decke. „Das ist aus dem Mikroskopokular gekommen?“, fragte Sebastian, „einfach so?“ Gerhard bestätigte das und erzählte, dass er Glück gehabt hat, dass er den Strahl nicht selbst abbekommen hat.
Der Tag zog sich hin ohne weitere Zwischenfälle und etwa 5 Stunden später war wieder Injection und wieder saßen sie im Aufenthaltsraum. Da kamen drei gut gekleidete Herren herein, die seltsamerweise jeder eine Laterne mit einer echten Kerze in der Hand hielten. „Hier wurde vor kurzem eine entscheidende Entdeckung gemacht“, begann der eine, der grauhaarig war und eine Barttracht trug, wie ein echter Weihnachtsmann. „Unsere Photonwatcher haben angesprochen, es muss ein außerordentlicher Effekt sein, der bisher noch völlig unbekannt ist. Da sind wir sofort aus Stockholm angereist um in diesem Jahr das zweite Mal den Nobelpreis für Physik zu verleihen.“ Alle starrten auf Sebastian, der ja diese Melodie gehört hatte, aber der Bärtige fuhr fort: „Es muss sich um den hochenergetischen Lasereffekt eines einzelnen Photons handeln.“ „Da sind sie richtig hier, das habe ich heute Morgen entdeckt, an einer Photonenfalle“, sagte der Jüngste der vier. „Wie heißen Sie bitte?“, fragte der zweite Herr. „Gerhard Rudolph, ich bin Ingenieur.“ „Ob das in Alfreds Sinn ist, es sollte doch wohl besser ein Physiker sein?“, fragte der Dritte seine Begleiter. Doch der Erste ignorierte das und sagte zu Gerhard: „Würden Sie uns gleich nach Stockholm begleiten können, um die Formalitäten schnell zu erledigen?“. Der zweite Mann: „Unser Wagen steht draußen bereit.“ „Natürlich, wenn ich bis übermorgen wieder hier sein kann“, sagte Gerhard, stand auf und schob seine ausgetrunkene Plastiktasse über den Tisch zu Sebastian hin. „Dann bis übermorgen“, er hatte sich schon seine Jacke übergezogen und begleitete die seltsamen Herren nach draußen.
Alle saßen verdutzt da. So schnell war wohl noch nie eine Nobelpreisentscheidung gefallen. Mit einem Mal sprang Sebastian auf und stürzte zur Tür den Verschwundenen nach und versuchte sie noch einzuholen: „Rudi, die Autoschlüs­sel, Du hast noch die Autoschlüssel mit!“ Aber es war schon zu spät, die Limousine war bereits abgerauscht. Dann müssen wir eben jetzt ein paar Tage mit der Taxe fahren, dachte er resigniert.
Die anderen waren jetzt natürlich neugierig geworden, besahen sich den Rußfleck im Cleanroom und wollten wissen, worin die Entdeckung denn nun bestanden hätte. „Ein Photon und dann so ein Laserstrahl? Das kann schon energetisch gar nicht sein“, sagte Pavel. Aber eine Entdeckung ist eben eine Entdeckung. Sebastian konnte nicht anders, als noch einmal mit dem Stethoskop an der Kammer zu lauschen und sich seiner eigenen kleinen Entdeckung noch einmal so recht hinzugeben.

C.R. 07.12.2005 Jahr der Physik