Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW 29 2018 „Achter Traum“

Achter Traum 

Immer, wenn ich Sie für mich verloren glaube und mich Ihnen mal wieder nicht als würdig erwiesen habe, erscheinen Sie mir im Traum. Zunächst allerdings nicht. Ich träumte von der Ostsee, einer sonnenbeschienenen Küste, an der ich fast allein war. Der weite Sandstrand setzte sich im Wasser fort, dort in leichten Wellungen unter flachem Wasser. Man konnte weit hineinwaten und das Wasser war warm. Ich musste über hundert Meter gehen, bevor das Wasser zum Schwimmen geeignet war und dort auch merklich kühler. Es war eine Wonne, aber die Gegend dahinter war nicht die gottverlassene mecklenburgische Landschaft, sondern hatte städtischen Charakter. So fand ich mich auch nach Kurzem in einem Kaufhaus wieder und war dort wegen der großen Wege auf einem Laufband unterwegs. Da kamen Sie doch von schräg hinten in mein Blickfeld und grüßten: „Hallo, Herr Rempel.“ Ich sah in Ihr Gesicht und Ihre Augen waren völlig ungeschminkt und sahen zum Erbarmen müde aus. Ich musste mich vergewissern, ob Sie es wirklich waren, denn ich hatte Sie lange Zeit nicht gesehen. Das dauerte einen langen Moment, aber es musste wohl so sein, dass es sich um Sie handelte. Sie stellten mir Ihre Freundin vor, eine Frau in mittleren Jahren, die sehr gewöhnlich aussah. Offenbar hatten Sie gar nicht vor, an die Ostsee zu gelangen, es ging wohl eher ums Shoppen. Ich schwärmte Ihnen vom gelben Sandstrand vor und dass Sie ihn unbedingt sehen müssten. Schließlich waren Sie und Ihre Freundin nicht abgeneigt.

Wegen des städtischen Charakters musste man mit der Metro fahren, ein in Deutschland eigentlich nicht üblicher Begriff für eine Untergrundbahn. Sie und Ihre Freundin hatten ja ziemlich viel Gepäck, aber trotzdem nahmen wir die Fahrt auf uns. Die Metro hielt an einer mir unbekannten Station. Ob wir da richtig ausgestiegen waren? Ich nahm Ihnen eine Tasche ab und wollte auch galant sein zu Ihrer Freundin, sodass ich deren Rucksack auch noch übernahm. Wir kamen draußen in einer mir unwahrscheinlich vorkommenden städtischen Gegend an und es verging einige Zeit. Dann kamen wir darauf, dass Ihre Kraxe irgendwie nicht da war. So ein Mist, dachte ich, die Metro würde jetzt sonstwo sein und man müsste eine Verlustanzeige machen. Trotzdem ging ich noch mal auf den Bahnsteig und der Zug stand immer noch da, sodass ich die Kraxe noch holen konnte. Es handelte sich wohl um die Endstation.

Dann begann unsere Wanderung, wobei ich wohl einige Zeit, bis sie im Traumleben keine Rolle mehr spielte, die beiden Kraxen und noch einige Taschen schleppte, aber es waren höchstens hafenähnliche Kanalarme zu entdecken und der Weg immer wieder versperrt, aber weit konnte die Ostsee nicht sein. Dann war der einzige Weg durch ein abgezäuntes Firmengelände und dort durch ein modernes Bürogebäude. Eine Frau saß am Computer und ein Schild ließ verlauten, dass man Luftbilder für 16 Euro nach Wunsch erwerben könnte. Das wäre zwar eine Lösung gewesen, aber war uns zu teuer und wir gingen vorbei, kamen dann an ein Einfamilienhaus, wo ein Physiker zuhause sein sollte, der nicht weniger als alle Probleme der Menschheit gegen Bezahlung lösen könne. Es öffnete uns ein Mann, etwas jünger als ich, und begrüßte uns freundlich. Das musste wohl der Alleskönner sein, doch dann erschien ein junger Mann, der eine leicht überhebliche Aura ausstrahlte und auf den wir dann wohl unsere Zuordnung verlegen mussten. Im Garten wirtschaftete eine Frau, mit der wir nur kurz einen Gruß tauschten.

Ich trug unser Anliegen vor und es wurde erst mal ein small talk geführt über die Plage der Nacktbader, die öffentliches Ärgernis erregten. Mir war in diesem Moment nicht klar, ob ich selbst dazu zählte und hielt mich mit einer Stellungnahme zurück. Auch dann erfuhren wir noch nicht, wo sich die Ostsee befinden könnte, sondern ich sollte mich erst verschiedenen Prüfungen unterziehen, von denen die meisten mir schon entfallen sind. An eine erinnere ich mich noch. Der junge Mann steckte sich fünf Cent in die Hosentasche (das hatte ich am Vorabend auch getan, als mir ein fünf Cent Stück durch eine Balkonritze gefallen war beim Skat und ich sie beim nächsten Mal Rauchen unten wiederfand). Ich sollte nun sagen, um wieviel sich sein Weg verkürzt, wenn er von A nach B schreitet. Das hatte natürlich nichts mit dem Geldstück zu tun, aber mit der Relativitätstheorie und ich war zu faul es auszurechnen und schätzte die Verkürzung auf eine Atomlage, was dann keinen Kommentar von Seiten des Prüfers wert war. So eigentlich erhielten wir keinen Hinweis, wie man zur Ostsee käme, aber als wir dann weitergegangen waren, begegneten wir immerhin dem umstrittenen Nacktbadestrand, der nun auch nicht schicklicherweise an der offenen See war, sondern an einer kleinen Kanalausbuchtung, von dem amphitheatermäßig, allerdings ohne Stufen, eine gepflasterte Halbrundfläche aufstieg, auf der sich Gestalten, mitten in der Stadt, lagerten, bei denen es uns egal war und wir auch gar nicht wahrnahmen, ob sie nun nackt oder knapp bekleidet waren. An diesem Ort wollten wir nicht verweilen und suchten weiter nach dem Strand, der wahrscheinlich von einer anderen Metrostation zu erreichen gewesen wäre, und da wir offenbar bis zur Endstation gefahren waren, weit weg sein konnte.

Also hieß es weitermarschieren und plötzlich hielten wir eine Rechnung in den Händen, wobei sich das Honorar für die Prüfung durch den Physiker auf ca. 35 Euro belief und die Unterhaltung mit der Dame auf 70 Euro. Gerade das zweite hatte ja nun definitiv nicht stattgefunden, aber man kennt diese Masche aus zwielichtigen Etablissements. Da waren wir natürlich sauer und sind zurück, um die Rechnung zu reklamieren, trafen aber zunächst nur die Frau an, die mich warnte und mir ihre Hilfe anbot, indem sie sich auf einen Besen mit einem runden Knauf schwang und mir sagte, ich solle mich an diesem festhalten. Nun war klar, dass eine Art Luftkampf mit dem hochnäsigen Physiker um den immerhin erklecklichen Betrag bevorstand, den man aber nicht träumen musste, sondern sich vorstellen kann wie das Quidditch bei Harry Potter. Wie das ausgegangen ist, weiß ich nicht, ich weiß nicht mal, ob Sie und Ihre Freundin zugeschaut haben, was ich da für eine Figur gemacht habe, aber diese Dienerin der Physikerzauberer hatte offenbar Anlass zu Missmut, weil sie bei denen scheinbar nur zum Arbeiten und auf der Rechnung Erscheinen da war.
Da eigentlich klar war, dass wir irgendwann den Strand erreicht haben würden, und nur die Frage offen, wie wir zusammen baden würden, wozu es ja an jeglicher Vorstellung nur fehlen kann, diese Vision die ganze Handlung vorangetrieben hatte, war es wohl auch nicht nötig, dass es tatsächlich im Traum geschah, wie uns ja Träume in der Regel um die Erfüllung von innigen Wünschen bringen, dafür aber auch selten Unglücke bis zum bitteren Ende ausführen.

Für mich ist das Wichtigste, dass Sie darin vorkamen, wenn auch nur wieder als Kumpeline, denn gegenüber Ihrer Freundin hatte es sich natürlich wieder verboten, eine anderweitige Regung zu zeigen. Noch immer steht mir Ihr, wenig Ihnen ähnliches, Gesicht auf dem Rollband vor Augen, dessen ungeschminkte Wehrlosigkeit ich gewahrt hatte. Fast scheint es, als wäre es Ihnen in diesem Moment egal gewesen, so abgespannt auszusehen, für eine Vertrautheit offen, die man eigentlich nur erlebt, wenn man sich alle Tage sieht, was vielleicht neben dem gelben Ostseestrand die eigentliche Illusion ist. Wenn man sich so gezeigt hat und auch dafür über alles geliebt wird, müssen sich Illusionen gar nicht bewahrheiten.

C.R. 20./21.7.2018