Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Kolumne KW 38 2016 „Intelligenzia“

Intelligenzia

 

Er kannte sich in der Geistes­wissenschaft und Prosa hervor­ragend aus, füllte ganze Vortrags­säle und erhielt massenweise Briefe von DDR Bürgern, denen er Kraft und Zuversicht gegeben hatte und zu dieser und jener Einsicht in beseitigbare Miss­stände in der DDR verholfen hatte. Auch auf eine frühe KPD Mitgliedschaft, illegalen Kampf, Emigration und als Ideengeber der Führungsriege konnte dieses Akademiemitglied und somit Teil der sozialistischen Intelligenzia, die ja doch einigermaßen verwöhnt war, zurückblicken.

1983 hat er dann nach sechsjäh­riger Wartezeit endlich das erfolgreichste Buch herausbrin­gen können: „Dialog mit meinem Urenkel“, das in einer Auflage von einer Viertelmillion verkauft wurde und als DDR feindlichstes Buch galt, das jemals von der Zensur zugelassen worden war, allerdings mit gehörigen Streichungen und Änderungen, die sich meistens um das Verhältnis zur Kritik drehten, wohl den wundesten Punkt der damals Herrschenden.

Trotzdem ist dieses Buch, das dann nach der Wende selbstver­ständlich in seiner Urfassung, also unzensiert erschien, heute nicht mehr lesbar. Was hatte damals, als jeder Strohhalm lebendigen Denkens dürstend ergriffen wurde, nicht als außergewöhnlich gelten können? Sicher war es die Idee, sich mit seinem Urenkel quasi zu unterhalten, der allerdings damals gerade mal drei war und der stolze Urgroßvater sich die Fragen zu seinen passenden Antworten, nicht gerade ein Dialog, auch noch selbst ausdenken musste.

Zwanzig Jahre ist es nun her, dass das viel weniger beachtete Buch: „Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel“ erschien und ein Jahr später verstarb Kuczynski 94jährig. Auch das ist kein Dialog, obwohl die Urenkel inzwischen zwei geworden waren und einer schon studierte, aber bei den Fragen, die nun ausführlicher ausfallen und provokativer sind, soll Gregor Gysi seine Hand im Spiel gehabt haben.

Da ist zunächst das erschrecken­de Vorwort, in dem der Wissenschaftler darlegt, dass es sich in DDR um gar keinen Sozialismus gehandelt habe, sondern um ein feudalabso­lutistisches System und die Pressefreiheit selbst bei Friedrich dem Großen größer gewesen wäre. Es hätte nur rudimentäre Elemente des Sozialismus gegeben, wobei er die fehlende Arbeits- und Obdachlosigkeit ins Feld führt und nicht etwa die Grundlage, das Volkseigentum, das nun freilich auch wenig zu spüren war. Jeder Feudalherr, der nicht viel besser lebte als ein Versicherungsvertreter im Wes­ten, hätte diese Einordnung weit von sich gewiesen und das greift wohl auch deutlich zu kurz, denn allzuweit gingen weder Berei­cherung noch Machtfülle, da sich das Volk, der große Lümmel, doch ganz schön mausig machen konnte. Auch ist den Macht­habern sehr zugute zu halten, dass die Wende weder wegge­putscht noch zusammenge­schos­sen wurde.

Als nächstes kann man begrin­sen, dass Kuczynski vor zwanzig Jahren der Meinung war, der Kapitalismus gehe nun unweiger­lich in das Stadium der Barbarei über, was sich doch, wenn überhaupt, sehr langsam vollzieht.

Dann wird das Buch lesenswerter und der Autor läuft zu besserer Form auf, wenn er sein intimes Verhältnis zu den meisten Genossen, die bis an ihren biologischen Niedergang das Heft in der Hand hielten, lebendig werden lässt, die er überwiegend als Freunde ver­steht, auch wenn er sie im weiteren Verlauf des Buches mit etwas besorgniser­regender Logik samt und sonders als Verbrecher einstuft.

Sein Krisenbarometer bezüglich des Kapitalismus war nie besonders verlässlich, nach ihm hätte es bestimmt doppelt so viele Totalzusammenbrüche ge­ben müssen als das Schicksal dem maroden Gesellschaftssys­tem wirklich zudachte.

Vielleicht war Kuczynski gar kein geniales Mitglied der Intelligen­zia, der sogar auf eine 150jährige intellektuelle jüdische Linkstradi­tion zu­rück­blicken konnte, sondern einfach nur ein emsiger und origineller Forscher, der noch dazu ein guter Kumpel war, was er als seinen Draht zu Unten bezeichnet.

Sein Widerstand, wenn man das so adeln kann, beschränkte sich darauf, dass er manchen geholfen hat bzw. die Freundschaft erhielt, die es aus der Kurve getragen hatte. Diese Feder heften sich viele an den Hut, die in einem verabscheuungs­würdigen System, wie eben jenem der Nazis, ausgehalten haben und kollaborierten. So konnte man diesen alten Mann sehr schön in ein DDR Bild einordnen, fügt er sich selber ein, das vom Nationalsozialismus nicht allzu­weit entfernt ist.

Lieber Genosse Kuczynski,
so viel Liebedienerei wäre gar nicht nötig gewesen, oder war Dein Herz so weit, dass Du auch noch den Umdeutern zur Hand gehen wolltest?

Christian Rempel in Zeuthen, den 18.9.2016