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Kolumne KW34 „Der Wächter“

Der Wächter

 

Gibt es ihn noch, den Wächter, der nächtens mit seiner Laterne umgeht und sieht, dass es auch kein Feuer gäbe?

Gibt es ihn noch, den Wächter, der mit dem Scheine seiner Weisheit in jede Tiefe der so reichen und schwierigen deutschen Sprache leuchtet, um auch nur das kleinste fehlgesetzte Zeichen zu finden und auszumerzen?

Jetzt hat man eher mit einem Zeltplatzwächter zu tun, der darauf achtet, dass keiner zu schnell fährt, sein Zelt etwa am Platz seines Gutdünkens errichten will oder die Nächte bei lautstarker Musik verbringen. Für die Zeltplatzwächter ist jetzt noch für anderthalb Wochen Saison und erst dann kann er wieder zu einem guten Buch greifen, was weniger wahrscheinlich ist, sich nach Lust und Laune betrinken und selbst Musik hören.

Saison ist allerdings auch für die Wächter der deutschen Sprache, denn Studenten haben Einreichungstermi­ne, die oft mitten in den Ferien liegen, doch die Wächterkollegen haben sich ebenfalls in die Ferien begeben und es wird manchmal schon schwierig, die Hotline zu besetzen. Die Illusion einer ständig auf Hochtouren laufenden Maschinerie muss auch in den Lektoraten aufrecht erhalten werden, die möglichst von allem genauso viel verstehen sollen wie die Autoren und das, was dieser schon für ein fertiges Produkt hält, noch mal ummodeln und korrigieren. Da hilft nicht nur lesen, lesen und nochmals lesen, da muss man sich auch in den 136 Rechtschreibregeln auskennen, die man glücklicherweise im Internet schnell parat hat.

Der Wächter, freilich, über den Inhalt ist noch nicht erfunden, das bleibt dem Autor überlassen, ob er sich in seine Karten gucken lässt, was er sich ausgedacht hat und was recherchiert ist. In der Regel lässt der Autor den Leser damit allein. Nur der berühm­teste Schweizer Schriftsteller Martin Suter, der zwar erst seit zwanzig Jah­ren schreibt, öffnet bereitwillig am Ende eines Buches seinen Werkzeugkasten und sagt, nun hier, schau her, was ich zusam­menreimte und was echt ist.

Sein Buch „Die Zeit, die Zeit“ ist ja nicht nur mitreißend durch den flüssigen und humorvollen Stil, es bringt uns auch eine Theorie nahe, an die manche zu glauben scheinen, dass man nämlich die Zeit auf einen beliebigen Zeitpunkt zurückstellen kann, wenn man nur alles ganz genauso einrichtet, wie es damals war, eine schöne Aufgabe für Sammler und Nostalgiker. Das Andenken bewahren mit den Dingen, die eine vergangene Zeit ausgemacht haben, das ist nicht nur eine Aufgabe für Museen, son­dern jeder kann es versuchen.

Der beste Beweis, dass das geht, ist ja, wenn man aus dem Urlaub zurück­kommt und die Arbeit ist immer noch so da, wie man sie verließ. Wer hat da nicht schon gedacht, dass in der Firma die Zeit stehenblieb?

Christian Rempel am 21.8.2015 irgendwo an der Ostseeküste