Der Gedichtladen

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Kolumne KW12 „Möbelrücken“

Möbelrücken

 

Da der Frühling bislang nur im Kalender steht und man überlegt, ob man nicht noch schnell ein paar Meisenringe ersteht, dass uns diese Frühlingsboten nicht auch noch abhanden kommen, muss auch der obligate Frühjahrsputz noch warten.


Ein Blick in das Vorlesungsverzeichnis der HTW ließ es mir noch kühler den Rücken herunterlaufen, als es die immer noch eisigen Temperaturen vermögen, denn das Semester beginnt schon am Montag und ich habe noch nicht einmal einen Lehrauftrag.

Der Computer allerdings weiß schon Bescheid und besagte, dass in dem Kurs ganze 60 Studentinnen der Bekleidungstech­nik sind. Diese müssen nun auch ein bisschen etwas über Physik wissen und als Standardwerk für die Nebenfachausbildung gilt ein Buch amerikanischen Ursprungs von Tipler und Mosca.

Als ich dieses Möbelstück in die Hände nahm und durchblätterte, machte das durchaus Vergnügen, denn von den stolzen 3,6 kg Masse sind bestimmt 2 kg Bilder, die aber nicht, wie in heutigen Schulphysikbüchern üblich, besonders marktschreierisch ausgeführt sind, so dass man darüber leicht die Funktion aus den Augen verlieren kann, sondern überwiegend sind es didaktische Schemata.

Was aber bleibt, dass erwartet wird, dass ein Student im Nebenfach so nebenher 3,6 kg Wissen konsumieren und beherrschen soll. Immerhin kann man sich eine durchgängige Systematik leisten, weil alle mathematischen Kenntnisse vorausgesetzt werden können, die man für die einfacheren Zusammenhänge braucht, aber das alles in einem einzigen Semester?

Nicht nur die Nebenfächler trifft es so hart, auch die Physiker selbst haben es heute mit einem Gerthsen zu tun, der von 1966 1,2 kg bis 2004 auf 2,7 kg angewachsen ist. Dazu gibt es noch tausende von Aufgaben von denen man in einem Menschenleben, wenn man nichts anderes täte, vielleicht hundert lösen könnte. Ist das die Wissensexplosion oder hätte sich mein Namensvetter Christian Gerthsen vielleicht im Grabe gewendet, wenn er gewusst hätte, was aus seinen didaktischen Berliner Vorlesungen geworden ist?

Nur der Schweizer Physiker Fabian Bodoky hat versucht, den Tipler einzudampfen auf ganze 74 Seiten. Da ist dann allerdings gar kein Bild mehr drin, was vielleicht auch suboptimal ist. Immerhin scheint er das Problem erkannt zu haben, dass es nicht nach dem Motto gehen kann: Herr Lehrer ich weiß was! und wenn diesem Ruf stattgegeben wurde, folgt: Herr Lehrer ich weiß noch was!

Wäre es nicht an der Zeit, sich der alten Griechen zu erinnern, die erst einmal viel nachdachten und sich dann genau überlegten, was sie mit Hilfe der Geometrie dann an den Mann brachten?

Genau das tut Bodoky, ohne allerdings weiter auf die Nöte heutiger Studenten einzugehen, denen ein Meer an Wissen und Pseudowissen bis an die Oberkante der Unterlippe steht und denen es nicht viel anders gehen kann als den Spartanern:

Als die samischen Gesandten
eine weitläufige Rede hielten,
sagten die Spartaner:
”Das Erste haben wir vergessen
und das Letzte nicht verstanden,
weil wir inzwischen das Erste vergessen hatten.“
Plutarch

Beschränkung muss das Motto sein,
Sonst gehen die Studenten ein!

Christian Rempel,
Im Waltersdorfe 20.3.2013