Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Mahatma Korczak

Man kann Janusz Korczak wirklich in eine Reihe stellen mit Mahatma (große Seele) Gandhi und Albert Schweitzer, die alle auf ein unwahrscheinliches Lebenswerk zurückblicken konnten, und über ihn fiel uns jetzt ein Büchlein aus DDR-Zeiten in die Hände. Meine erste ernsthafte Begegnung mit diesem Pädagogen, der aus dem Warschauer Ghetto mit den Kindern seines Waisenheims in den Tod ging, obwohl ihm selbst ein deutscher Kommandant Rettung angeboten hatte, war anlässlich eines aufwühlenden Schülerstücks zu Zeiten meiner ersten Wahnsinns­schü­be, das wohl hieß: „Deutschland – Dein Meister ist der Tod“.
Das Buch enthielt für mich gleich so viele déjà vus, dass sich in Korczaks Leben unmittelbar das ganze eigene Leben abbildet, das in meinem Fall unter anderem mit der Drohung ins Kinder­heim zu kommen anfing, wozu uns zur Abschreckung das Buch „Schkid (Школа имени Достое­вского) – Die Republik der Strolche“ vorgelesen wurde, das aber so interessant war, dass wir zwar nicht ins Kinderheim wollten, aber diese russischen Erziehungs-Kinder-Republiken fanden wir ganz toll.
Bei uns gab es ja nur eine Pionierrepublik, aber ob dort die Idee der Kinder-Selbstverwaltung verwirklicht wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, obwohl mein größerer Bruder mal dorthin für zwei Monate delegiert worden war. Den entscheidenden Schub in den zwanziger Jahren des vori­gen Jahrhun­derts erhielt die Pädagogik von sowjetischer Seite. Dort hatten die Revolutions­folgen eine Menge von vagabundierenden Jugendlichen hervorgebracht, denen man mit den herkömm­lichen Metho­den kaum beikommen konnte. Die entscheidenden Ideen sind in Makarenkos „Päda­gogi­schem Poem“ niedergelegt, das der Praxis der Resozialisierung dieser problematischen Ju­gend­­lichen und Kinder entsprang. Es kann Korczak erst relativ spät bekannt geworden sein, denn es ist erst in den späten dreißiger Jahren entstanden, aber die Übereinstimmung mit seinen eige­nen Vorstel­lun­gen muss ihn verblüfft und begeistert haben, so dass er ausrief: „Das ist schon keine pädagogische Literatur mehr, das ist wahre Pädagogik.“ Es war nämlich die Idee, die rigide Machtaus­übung der Erwachsenen gegenüber den Kindern aufzugeben und diese in Verhältnisse zu versetzen, in denen sie sich von selbst erziehen. Das ging natürlich nur, wenn das Kollektiv zur Geltung gebracht wurde. Als Beispiele könnten bei Korczak die Sjems und die Kindergerich­te gelten, denn bei letzteren konnte man sich nicht nur gegenseitig anklagen, sondern auch Erzie­hern konnte eine Klage angehängt werden und diese mussten sich dann verantworten. Ein weite­res Merkmal sind vielseitige kulturelle Aktivitäten, die über Wandzeitungen, richtige Zeitungen, Teilnahme am Rundfunk, Theatervorstellungen und gemeinsame Feste reichen. Korczak trat selbst im Rundfunk als „der alte Doktor“ (er war von Haus aus Mediziner) auf und war sehr po­pulär. Er bewirkte, dass eine etablierte Zeitschrift (Unsere Rundschau) einen ständigen Kinderteil herausbrachte, der zum großen Teil von Kindern selbst gestaltet wurde und zu dem tausende von Briefen eingingen.
Natürlich hatten die Kinder auch Pflichten, so dass man weitgehend auf Personal verzichten konnte. Sie halfen bei der Essenzubereitung, beim Saubermachen und der allgemeinen Aufrecht­erhaltung der Ordnung, wofür sie teilweise sogar bezahlt wurden. Korczak umreißt diese Innova­tionen mit den Worten: „Wir bürden ihnen die Pflichten des morgigen Menschen auf, geben ih­nen dagegen nicht ein einziges Recht des heutigen Menschen.“ Er wollte den Kampf um die Rech­te der Kinder nachholen, die bei den anderen sozialen Bewegungen bisher ver­gessen worden waren. Korczak: „Die Welt reformieren heißt die Erziehung reformieren.“
Heute wird der kollektive Aspekt von den Herren der Wissenschaft allgemein bemäkelt. Sie stoßen sich an der Militanz der Makarenkoschen Organisation und wollen dort Gruppe und Grup­pendynamik eingesetzt wissen, weil doch ansonsten die Individualität verloren ginge. Dass man auf diesem Wege die Sauberkeit nur mit bekopftuchten Türkinnen aufrecht erhalten kann und die kulturellen Aktivitäten auf die den Eltern genehme Ausbildung in einem Instrument oder Ballett beschränkt bleibt und immer weniger aus den „Gruppen“ herauskommt, nimmt man billigend in Kauf. Von Disziplin kann schon fast nicht mehr die Rede sein und von militärischen Gepflogen­hei­ten schon gar nicht, obwohl doch selbst diese einen positiven Effekt haben.
Bei diesem Rückblick fällt auch auf, dass zu diesen Zeiten noch andere Lebensenergien zu handlen waren, wenn man zum Beispiel liest, dass beständige Schlägereien zu „Herausforde­rungen zum Zweikampf“ kanalisiert werden mussten und man heute die geringste Aggression schon im Keim erstickt. Damit ist doch auch jeglicher Leistungswille verloren gegangen und dass Kollektive ernstlich im Wettbewerb stehen, gehört außer im Sport völlig der Vergangenheit an. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Voranstellen des Individuellen vor dem Kollektiven die Funktion hat, dass auch das Soziale später in der Gesellschaft nicht mehr funktio­nieren möge, und auch dafür gibt es genügend Anzeichen. Selbst die Asozialen sind heute eine Ansammlung von Selbstdarstellern, die nur noch wenig Kollektivverständnis besitzen.
Wir wollen aber diese politischen Erwägungen, die nur ein Lamento sein können, beiseite lassen und uns einem weiteren déjà vu zuwenden, das mit dem Theaterschaffen Korczaks ver­bunden ist, denn das beschäftigt sich zu einem Gutteil mit dem Wahnsinn. Obwohl der bei Kindern selten anzutreffen ist und die Berufswahl eines Erziehers immer auch dadurch motiviert ist, dass man es mit aufstrebenden gesunden Menschlein zu tun hat, und wenn sie schon ein Gebrechen haben, dieses dann doch heilbar oder behebbar sein kann. So reich das Leben Korczaks an Aktivitäten war, so sehr er sich für seinen Beruf aufopferte, war er ja auch ein Mensch, der keine Ehe führte, der keine eigene Familie hatte, der selbst eine Jugend hatte, die durch das Problem des Wahnsinns überschattet war.
Sein Vater, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, erkrankte nämlich, als Korczak 11 Jahre alt war, psychisch, kam in verschiedene Anstalten, wo ihm aber nicht geholfen werden konnte und starb schließlich, nachdem er die Familie in den wirtschaftlichen Ruin gebracht hatte. Korczak, der mit 14 noch mit Bauklötzern spielte und eine Kindheit in begüterten Verhältnissen erlebt hatte, flüch­tete sich ins Geistige, in das Lesen und Schreiben, was wir doch selbst als probates Mittel der Be­kämpfung des eigenen Wahnsinns erkannt haben, wurde für ihn somit ein Mittel damit umzuge­hen, obwohl seine Befürchtung, dass er diesen Makel geerbt haben könnte, sich als unzutreffend erwies.
So bildete in seinem ersten Drama „Wo entlang?“ der Wahnsinn des Familienvaters den tra­gischen Schlussakkord der Katastrophe. Ein Jugendwerk bringt die Verzweiflung und Angst zur Sprache: „Als ich 17 war, begann ich den Roman ‚Selbstmord‘ zu schreiben. Aus Furcht vor dem Wahnsinn begann der Held das Leben zu hassen.“ Er verfasste in diesem Alter auch Gedichte und konnte damit bis zum Chefredakteur der dortigen „Prawda“ vordringen. Seine Kostprobe:

Gestattet, nicht zu fühlen,
gestattet, nicht zu leben.
Gestattet mir, ins finstere Grab zu steigen

quittierte der bekannte Publizist mit: „Ich gestatte“, woraufhin Korczak nie wieder Gedichte geschrieben hat. Solche „Werke“ hätten ihm heute mit Sicherheit einen Platz in der nächstbesten Psychiatrie gesichert, er aber konnte sich in ein Studium vertiefen, das solchen Bedrohungen noch am ehesten wehren konnte, er wurde Arzt und war sehr erfolgreich. Ob er je auch ein ero­tisches Leben hatte, kann man nur aus seinem Erstlingswerk „Wo entlang?“ orakeln, das wohl verschollen ist, aber von dem die Kritik schrieb: „Der Autor verwendet Mittel, deren man sich in der bisherigen Bühnenpraxis eigentlich nicht bedient hat. Junge Männer unterhalten sich offen mit jungen Mädchen über heikelste Fragen. Die Mädchen hören ihnen nicht nur ohne Erröten zu, sondern erwidern in gleicher Weise. Dann wieder tritt eine absichtlich eingeführte junge Dirne auf, die sich ständig im Freudenhaus aufhält. Sie gebraucht alle für ihre soziale Situation charak­teristischen Ausdrücke, wobei es von missklingenden, derben Ausdrücken wimmelt.“ Um so etwas zu schreiben, muss man schon ein bisschen Erfahrungen haben. Ist hier eine Analogie zu Tolstoi denkbar, der nach jugendlichen Exzessen sich in seinem Jasnaja Poljana der Erziehung von Kindern widmete?
Das sei jedem Menschen zugestanden und würde seiner Heiligsprechung wegen seines helden­haften Lebens keinen Abbruch tun, bei dem er ständig um Geld für sein Waisenhaus einkommen musste, wo er fast keine Privatsphäre hatte und dann in den schweren Zeiten sogar im Schlafsaal in einem Kinderbett nächtigen musste.
Mit Mitte fünfzig schrieb er dann den „Senat der Tollköpfe“, das wir leider noch nicht kennen, aber eigentlich ein Muss für jeden heutigen Wahnsinnigen, also auch für mich, sein sollte. In die­sem Zusammenhang bekennt Korczak: „Ich hatte eine Heidenangst vor dem Irrenhaus, in das mein Vater mehrere Male eingewiesen wurde. Ich war also der Sohn eines Wahnsinnigen. Ich war also erblich belastet. Es sind ein paar Jahrzehnte verstrichen, und bis heute quält mich von Zeit zu Zeit dieser Gedanke.“ Hier wird er Opfer der Wissenschaftsgläubigkeit jener Zeit im doppelten Sinne, dass es das schlimmste Los sein muss, wenn man nicht mehr Herr seiner Sinne ist und an diesem Betrieb nicht mehr teilnehmen kann, und dass sie die Erblichkeit als Tatsache entdeckte, was ihn in seiner Angst so weit trug, dass er der Eugenik zuneigte mit dem staatlichen Verbot der Weitergabe von solchen fatalen Mängeln auf dem Wege der Fortpflanzung. Dabei ist der Verrückte heutzutage nützlich, indem er „Kunde“ eines Gesundheitswesens wird und diesem Gewinn einbringt, wie der Autokäufer dem Händler nützlich ist, indem er ein Auto verbraucht, eigentlich also auch Schaden anrichtet und einen Wert vernichtet, aber, indem er bezahlt, den Händler reich macht und die gesamte Maschinerie weitertreibt.
Jeder Psychopath würde auch Korczaks folgende Äußerung unterschreiben: „Ich hänge zu sehr an meinen Tollheiten, als dass mich der Gedanke nicht in Schrecken versetzt hätte, jemand werde wider meinen Willen versuchen, mich zu kurieren.“ Das hört sich schon fast nach einem Men­schen­recht auf Wahnsinn an. Das haben auch die Rezensenten seines Stückes bekräftigt, von de­nen einer schrieb (Karol Irzkowski):

„Seine Irren machen nach außen hin den Eindruck von Irren, doch innerlich … ? Innerlich sind sie Menschen wie andere auch, doch mit einer Seele, in der die Nöte der Welt – soziale, philosophische und kosmische Nöte – heiß aufwallen. Es sind also philo­sophische Irre, Menschen, die für Millionen andere Menschen verrückt werden.“

Korczak nimmt die Sache in dem Stück auch von der leichten Seite, indem einen Kaufmann sa­gen lässt: „Jeder Irre ist ein Simulant. Im Leben hat er keinen Erfolg gehabt. Er hat es sich also leicht gemacht und ist verrückt geworden, so wie ein Kaufmann, der sich aus Witz und Tollerei für bankrott erklärt.“ Damit wird ein übliches Urteil reflektiert, dass der Irre selbst willentlichen Anteil an seiner Verrücktheit haben könnte und sich dann nicht zu wundern braucht, wenn man ihn dann wider Willen kuriert. Heute nun kann sich jeder in einen psychischen Zustand versetzen lassen, wo selbst Totkranke ihrem eigenen Sterben ohne emotionale Erregung „zuschauen“, in­dem man entsprechende Psychopharmaka einnimmt, kann Soldaten das Killen oder gegebenen­falls ebenfalls Sterben erleichtert werden, indem man entsprechende Mittelchen anwendet. Wenn wir oben bei den Kindern und Jugendlichen den Verlust an Lebensenergie verzeichnet haben, so trifft das auf den einsichtigen Geisteskranken ebenso zu. Ist es das Lebensziel geworden, mit mög­lichst wenig Höhen und Tiefen auszukommen? Ist das nicht schon Selbstmord auf Raten?
Gestatten Sie mir, mich nach der Welt der Lebendigkeit zurückzusehnen!

C.R. 15.8.2012
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