Der Gedichtladen

Gedanken aus dem Leben, für das Leben

Löbliche Illusionen

Nikolausstiefel können so groß sein, dass auch ein Buch hineinpasst. In diesem Fall schenkte mir meine Frau Anna Parisis Buch: „Wandernde Sterne oder wie die Wissenschaft erfunden wurde.“ Die italienische Autorin hat der Wissenschaft selbst den Rücken gekehrt. Wenn man die Finanzsituation der italienischen Forschung ein bisschen kennt, verwundert das gar nicht. Sah ich doch, bevor ich selbst auch der Forschung abschwor, wie in einer italienischen Einrichtung Denkerstübchen an Denkerstübchen Leute an Computern saßen und wer weiß was machten, was hierzulande sicher nicht viel anders ist. Waren sie nun mehr einer Unterhaltung hingegeben oder war das ernsthafte Arbeit, diese Tatsache allein wäre schon ein Forschungsthema für sich.
Vielleicht ist es wirklich wichtiger, die Lust am Denken wieder zu vertiefen, als in solcherart Kombinaten zu dienen. Allerdings wird sich wohl kaum ein Kind der Zielgruppe hinsetzen und dieses Buch, in dem es von altertümlichen Gelehrten nur so wimmelt, studieren. Es bleibt wohl einer Pädagogik vorbehalten, denn so schwierig wie Gruppen auch sind, ist es trotzdem leichter dort Begeisterung zu wecken.
Ein Kind, das sich dafür interessiert, warum Wurzel 2 nicht rational ist, sich im Anhang den Beweis durchliest und dann noch einen Freund findet, dem es ihn erklären kann, das sind wohl einfach zu viele Unwahrscheinlichkeiten. Aber wenn man selbst dieses Kind abgibt , man sich nicht zu schade ist, sich diesem einfachen Problem wieder einmal zuzuwenden, dann kann es klappen und man kann es sogar erklären, wenn man es allerdings noch einfacher macht, als es in dem Buch dargestellt ist. Insofern ist dieses Buch als Halbfabrikat anzusehen.
Umständlich ist auch das bekannte Beispiel mit der Krone des Hieron, die den Verdacht erweckte, sie sei nicht aus purem Gold. Natürlich kann man sich in diesem Zusammenhang Gedanken machen über schwimmende und untergehende Körper, aber wenn Wasser verdrängt wird, wie Archimedes in der Badewanne bemerkt haben soll und mit dem Ruf „Heureka“ nackt zu seinem König gestürzt sein soll, dann handelt es sich doch nur um die schlichte Tatsache der Volumenbestimmung durch Wasserverdrängung, wo man von nichts weiter Gebrauch macht als von dessen Schmieg­sam­keit an jede Form. Dieser Versuch wird oft kompliziert beschrieben, als hätte Archimedes den Gewichtsverlust der untergetauchten Krone bestimmt, was nun wirklich die Sache mit einem eckigen Schuhlöffel anziehen hieße.
Die Diskussionen mit den verstorbenen Wissenschaftlern werden oft in Dialogform geführt und es ist ein Vorteil des Buches, dass dabei die jeweilige Meinung des Weisen stehen bleibt, auch wenn sie total falsch ist. Das gibt dem nichtvorhandenen Leser die Möglichkeit, das Ganze selbst zuende zu denken.
Ein weiterer Vorteil ist, dass viele Personen in ihren geographischen und geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Wer weiß denn schon, dass Syrakus auf Sizilien liegt und um 200 v.u.Z. mit Karthago verbündet war und diese Stadt den Attacken der Römer auch dank der guten Einfälle des Archimedes zwei Jahre standhalten konnte.
Dass die Anfänge der Kultur in Ägypten lagen, diese dann von den Babyloniern überflügelt wurden, kann man ja noch leicht zuordnen, aber dass dann Thales in Milet wohnte und das auf dem Gebiet der heutigen Türkei liegt, war mir neu. Dass Platon die Akademie gründete und sein Lieblingsschüler Aristoteles mit dem Lykeion eine Konkurrenzeinrichtung schuf, die dann später wieder im Alexandrinischen Museion ihre Fortsetzung in Ägypten fanden, ist ein guter Über­blick. Pythagoras kam auch erst aus der Drehe Türkei (Insel Samos) und ist dann mit etwa dreißig Jahren an die Stiefelsohle Italiens gezogen, nach Kroton.
Mit einem Mal war die Wissenschaft mit Namen verbunden, während doch Geistesgrößen im Ägypten und Babylon nicht verzeichnet waren. So ragt auch Aristarch heraus, der wie Pythagoras auf Samos geboren wurde, nur 250 Jahre später. Er beurteilte manche Sachen unvoreingenom­men und vor allem quantitativ. Für ihn war die Erde schon eine Kugel, die nicht unbedingt im Weltall ruhen musste, weil doch das Feststehen der Fixsterne nicht viel besage, da man eine Bewegung zu ihnen aufgrund der großen Entfernung gar nicht feststellen könnte. Diese sog. Parallaxe wurde auch tatsächlich erst im 19. Jahrhundert gemessen. Er bestimmte mit einer Methode, die ich Schülern vergeblich nahezubringen versucht habe, nämlich über ein rechtwink­liges Dreieck, wenn gerade exakt Halbmond ist, die Entfernung der Sonne relativ zur Mondent­fernung zu bestimmen. So ein Ereignis ist relativ selten und ich versuchte es selbst am 13. Dezember. Der Halbmond war auch zu sehen, die Sonne aber leider nicht so recht.
Die Methode des etwa 40 Jahre jüngeren Eratosthenes, der in Kyrene, dem heutigen Libyen, geboren wurde, erst in Athen studierte und dann in Alexandria in königlichen Diensten stand und Bibliotheksleiter des Mueseions wurde, den Erdumfang zu bestimmen, ist ziemlich genial. Er verglich nämlich den Winkel der Sonneneinstrahlung an zwei Orten, die in Nord-Süd-Richtung lagen, mit einer hohen Genauigkeit und kam zu einem gültigen Wert für den Erdumfang. Von da ab war eigentlich klar, dass die Erde eine Kugel sein musste, wie Aristarch auch schon vermutet hatte.
Dass die Römer dann den wissenschaftlichen Arbeiten wenig Interesse entgegenbrachten, ist einem schon dadurch klar, dass aus dieser Epoche kein einziger Mathematiker oder Naturwissen­schaf­tler hervorging. Dass wir diesen auch Enzyklopädien zu verdanken haben, ist vielleicht weniger bekannt, denn das war der erste Versuch, die ausufernden Erklärungen auf einen einfach fasslichen Nenner zu bringen und gemahnt fatal an heutige Zeiten, wo man auch alles derart aufbereitet.
Die Autorin lässt auch keinen Zweifel daran, dass die frühen Christen nicht viel besser waren und man muss an Ernst Häckel denken, der diese 1000 Jahre als einen Zustand des kollektiven Wahnsinns bezeichnet hat. Die Araber erst haben uns die Antike wiedergeschenkt, auch wenn sie ebenfalls kräftig gehaust hatten in den Hochburgen der Wissenschaften. Wer hätte denn aber auch damals schon ahnen können, dass die Wissenschaft so viel bewirken könnte, dass sie heute nicht selten als Ersatzreligion anzutreffen ist.
Aber dieses Zeitalter geht nach kurzer Blüte nun auch wieder zuende. Man darf sich wieder fragen, welchen Sinn dieses ganze Gewese haben soll. Jedenfalls, Kindern Spaß am Denken zu vermitteln, das wäre schon etwas, wofür sich zu leben lohnte.
Also pflegen Sie weiter Ihre Illusionen Frau Parisi.

C.R. 24.12.2010